Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Konstruktivismus:

Was wir von der Welt "wissen",
haben wir selbst konstruiert.
(zur Übersetzung ins Englische)


Grundlage meines Denkens und Arbeitens ist der „radikale Konstruktivismus“. Diese „Weltanschauung“ geht davon aus, dass wir die Welt selbst nie genau erkennen können. Wir haben lediglich die Möglichkeit, uns Vorstellungen („Landkarten“) von ihr zu machen. Diese Vorstellungen hängen vor allem von den Möglichkeiten unseres Organismus ab (insbesondere von unseren Sinnesorganen und unseren Fähigkeiten, die entsprechenden Informationen zu verarbeiten). So sind unsere inneren Bilder keine 1:1-Abbildungen einer wie auch immer gearteten Realität. Sie sind das Ergebnis sich im Dunkeln abspielender chemischer und elektrischer Vorgänge.

Wie wenig Verlass auf unsere Sinnesorgane letztlich ist, zeigen unzählige Experimente. Sie demonstrieren eindrucksvoll, wie leicht wir uns täuschen lassen. So vervollständigen wir Strukturen, die es eigentlich gar nicht gibt (Beispiel: blinder Fleck des Auges). Wir legen Formen und Gestalten in Arrangements hinein, die dort nicht zwangsläufig sind (Beispiele: Wir sehen „Dreiecke“, wo es eigentlich keine gibt. Bei Kippbildern entscheiden wir uns immer nur für eine Version. Was Vordergrund oder Hintergrund unseres Erlebens ist, legen wir selbst mehr oder weniger willkürlich fest.). Wahrnehmung ist also keineswegs nur eine bloße „Abbildung“ der „Außenwelt“, sondern immer auch das Ergebnis unserer aktiven Auseinandersetzung mit dieser. Dabei tendieren wir vor allem zu „Informationen“, die zu unseren bereits vorhandenen Erkenntnisstrukturen und –tendenzen passen.

Was wir „erkennen“ oder „wissen“ hat wenig mit „Wahrheit“ zu tun. Wissen ist nichts anderes als Wiedererkennen. Es zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sich als ein Phänomen bewährt hat, das unser Überleben in dieser Welt fördert. Es ist das Ergebnis erfolgreicher Wiederholungen, die es uns erleichtern, vom Einzelfall zu abstrahieren und zu generalisieren. Wissen gestattet uns, Vorhersagen zu machen, ohne allerdings deren Eintritt zu garantieren. „Wissen“ ist also etwas „Nützliches“. Es hat sich bei der Bewältigung der Aufgabenstellungen (Probleme) als brauchbar („viabel“) bewährt, die für unser Überleben bedeutsam sind. Wissen verleitet dazu, Phänomene so wahrzunehmen, dass sie zum vorhandenen Wissen passen.

Wissen lässt sich nicht ohne weiteres „übertragen“. Jeder Mensch muss es sich aufgrund eigener Erfahrungen selbst aneignen. Dabei kann neues „Wissen“ nur soweit integriert werden, als es zu vorhandenem Wissen „anschlussfähig“ ist. Die einmal vorhandenen Strukturen entscheiden also mit darüber, was sich ihnen im weiteren noch angliedern kann (Beispiel Spracherwerb: Es ist leicht die erste Sprache zu erlernen, deren Struktur kann das Erlernen einer zweiten Sprache aber bereits deutlich erschweren). „Information“ geht also auch immer mit „Deformation“ einher. Denn einmal „informiert“ ist es kaum noch möglich, die Welt ohne die Brille der entsprechenden Information wahrzunehmen. Möglicherweise erklärt sich so, warum sich Menschen fast pausenlos mit Informationen („Glaubenssätzen“, „Überzeugungen“, „Grundannahmen“) überhäufen: Offenbar handelt es sich um eine mehr oder weniger subtile Form „sanfter Fremdbeeinflussung“. Denn findet die Information in das Wissensgebäude des anderen Eingang, wird sie sich seines Denkens, Fühlens und Verhaltens bemächtigen.

Aus der Fülle des Lebensflusses schneiden wir willkürlich einzelne Segmente heraus („Interpunktion“, Zergliederung), die wir dann miteinander vergleichen. Auf der Suche nach Stabilität forschen wir nach Identität, Ähnlichkeit und Unterschied. Ständig stellen wir Beziehungen zwischen den von uns erzeugten Segmenten her. Als Ergebnis dieses Bemühens erzeugen wir Zeit (= wiederholte Wahrnehmung eines identischen Phänomens) und Raum (= gleichzeitige Wahrnehmung mehrerer unterscheidbarer Phänomene). „Kausalität“ ist ein Konstrukt, dass es uns ermöglicht, zwei Phänomene trotz vorhandener Unterschiede als identisch zu erleben, weil es ein die Veränderung erklärendes „kausales Bindeglied“ gibt. Offenbar verbessert es die Überlebenschancen, wenn man im eigenen Erleben Regularitäten feststellen kann. Schon der Begriff „Fakt“ (vom Lateinischen „facere“ = machen) veranschaulicht, dass die Welt (die „Fakten“) letztlich Ergebnis unseres eigenen Handelns sind. Ähnlich sprechen wir im Deutschen von "Tatsachen". Was wir machen, sehen, hören oder fühlen, hat viel mehr mit uns selbst (unseren eigenen Strukturen) zu tun als mit Phänomenen, die wir außerhalb unserer Person wähnen.

Jeder Mensch verfügt über sein ureigenes Wissen, das sich vom Wissen anderer mehr unterscheidet, als uns meist bewusst oder lieb ist. Leider setzen viele Menschen immer wieder irrtümlicherweise voraus, dass ihr Gegenüber das gleiche Wissen teilt, wie sie selbst. Dabei leuchtet es ein, dass jeder Mensch völlig eigene Vorstellungen hat, wenn er Begriffe wie „Vater“, „Mutter“, „Erfolg“ oder „Glück“ verwendet. Alle Begriffe hängen zutiefst mit ureigenen Erfahrungen zusammen, die von anderen Menschen nicht ohne weiteres vorausgesetzt oder nachvollzogen werden können. Wer die erwähnten Begriffe (Konstrukte) in den Mund nimmt, kann nicht erwarten, dass sie beim Zuhörer vergleichbare Erfahrungen in Erinnerung rufen wie beim Sprecher. Dieser Umstand lässt sich auf die Formel bringen: Über den Inhalt einer Botschaft entscheidet immer der Empfänger.

Neues Wissen entsteht durch „Störungen“ (Irritationen), die uns zwingen, unser bisheriges Wissen zu erweitern bzw. zu modifizieren. So neigen wir im allgemeinen dazu, Informationen und Interaktionen unseren bisherigen Vorstellungen und Gewohnheiten anzupassen = zu assimilieren (bei Begegnungen mit anderen gehen wir vom „typischen Verlauf“ aus). Erst „Störungen“ nötigen uns dazu, unsere Vorstellungen und Gewohnheiten dahingehend zu variieren, dass sie besser zu der betreffenden Störung passen und uns so den Umgang mit dieser erleichtern (= akkomodieren).

Wer im Sinne des radikalen Konstruktivismus denkt und handelt, wird zwangsläufig toleranter gegenüber seinen Mitmenschen. Da man beim anderen nichts voraussetzen darf, ist man ständig gehalten, sich um Einblicke in die Erfahrungswelt des anderen zu bemühen. Vor allem „Bedeutungen“ können nicht vorausgesetzt werden, sondern müssen durch oft langwierige Verhandlungen immer wieder mühsam als gemeinsames Konstrukt neu erarbeitet werden.

Wer konstruktivistisch denkt und lebt, erkennt an, dass wir in dauernder Unsicherheit leben müssen. Dies kann durchaus „beruhigen“, da man sich nicht mehr dem Stress aussetzen muss, vermeintlichen Sicherheiten oder Gesetzen nachzujagen. Da man nichts beim anderen voraussetzen kann, bleibt das Leben voller Überraschungen und damit spannend.

Für meine psychotherapeutische Arbeit bedeutet dies,

  • dass ich mich um ein Kennenlernen der Erfahrungswelt meiner Patienten bemühe,

  • dass ich möglichst oft „irritiere“, um „neues Wissen“ zugänglich zu machen bzw. Weiterentwicklung zu fördern,

  • dass ich dabei neue Informationen so auswähle und anbiete, dass sie zu den vorhandenen Strukturen (Erfahrungen) möglichst passen, also „anschlussfähig“ sind,

  • dass ich zu neuen Erfahrungen ermutige, da diese die Grundlage neuen Wissens sind (und im Nervensystem offenbar anders verarbeitet werden als überwiegend theoretische Informationen),

  • dass ich meinen Patienten verdeutliche, dass sie vor allem etwas über sich selbst aussagen, wenn sie anderen Menschen Eigenschaften und Verhaltensweisen zuschreiben,

  • dass ich meine Patienten für konstruktivistisches Denken und Verhalten zu begeistern versuche, da es zu mehr Toleranz gegenüber anderen und mehr Gelassenheit gegenüber dem (überwiegend unberechenbaren) Leben verhilft.


Zur Spontanzuschrift zweier Leserinnen
Ein empfehlenswertes Video auf Youtube:
Wahrheit! Alles Lüge! Wie unser Gehirn Wirklichkeit konstruiert