Grundlage meines Denkens und Arbeitens ist
der „radikale Konstruktivismus“. Diese „Weltanschauung“ geht davon
aus, dass wir die Welt selbst nie genau erkennen können. Wir haben
lediglich die Möglichkeit, uns Vorstellungen („Landkarten“) von ihr
zu machen. Diese Vorstellungen hängen vor allem von den Möglichkeiten
unseres Organismus ab (insbesondere von unseren Sinnesorganen und unseren
Fähigkeiten, die entsprechenden Informationen zu verarbeiten). So sind
unsere inneren Bilder keine 1:1-Abbildungen einer wie auch immer gearteten
Realität. Sie sind das Ergebnis sich im Dunkeln abspielender chemischer
und elektrischer Vorgänge.
Wie wenig Verlass auf unsere Sinnesorgane
letztlich ist, zeigen unzählige Experimente. Sie demonstrieren
eindrucksvoll, wie leicht wir uns täuschen lassen. So vervollständigen wir
Strukturen, die es eigentlich gar nicht gibt (Beispiel: blinder Fleck des
Auges). Wir legen Formen und Gestalten in Arrangements hinein, die dort
nicht zwangsläufig sind (Beispiele: Wir sehen „Dreiecke“, wo es eigentlich
keine gibt. Bei Kippbildern entscheiden wir uns immer nur für eine
Version. Was Vordergrund oder Hintergrund unseres Erlebens ist, legen wir
selbst mehr oder weniger willkürlich fest.). Wahrnehmung ist also
keineswegs nur eine bloße „Abbildung“ der „Außenwelt“, sondern immer auch
das Ergebnis unserer aktiven Auseinandersetzung mit dieser. Dabei
tendieren wir vor allem zu „Informationen“, die zu unseren bereits
vorhandenen Erkenntnisstrukturen und –tendenzen passen.
Was wir
„erkennen“ oder „wissen“ hat wenig mit „Wahrheit“ zu tun. Wissen
ist nichts anderes als Wiedererkennen. Es zeichnet sich vor allem
dadurch aus, dass es sich als ein Phänomen bewährt hat, das unser
Überleben in dieser Welt fördert. Es ist das Ergebnis erfolgreicher
Wiederholungen, die es uns erleichtern, vom Einzelfall zu abstrahieren
und zu generalisieren. Wissen gestattet uns, Vorhersagen zu machen,
ohne allerdings deren Eintritt zu garantieren. „Wissen“ ist also etwas „Nützliches“.
Es hat sich bei der Bewältigung der Aufgabenstellungen (Probleme) als
brauchbar („viabel“) bewährt, die für unser Überleben bedeutsam sind.
Wissen verleitet dazu, Phänomene so wahrzunehmen, dass sie zum vorhandenen
Wissen passen.
Wissen lässt
sich nicht ohne weiteres „übertragen“. Jeder Mensch muss es sich
aufgrund eigener Erfahrungen selbst aneignen. Dabei kann neues „Wissen“
nur soweit integriert werden, als es zu vorhandenem Wissen „anschlussfähig“
ist. Die einmal vorhandenen Strukturen entscheiden also mit darüber, was
sich ihnen im weiteren noch angliedern kann (Beispiel Spracherwerb: Es ist
leicht die erste Sprache zu erlernen, deren Struktur kann das Erlernen
einer zweiten Sprache aber bereits deutlich erschweren). „Information“
geht also auch immer mit „Deformation“ einher. Denn einmal
„informiert“ ist es kaum noch möglich, die Welt ohne die Brille der
entsprechenden Information wahrzunehmen. Möglicherweise erklärt sich so,
warum sich Menschen fast pausenlos mit Informationen („Glaubenssätzen“,
„Überzeugungen“, „Grundannahmen“) überhäufen: Offenbar handelt es sich um
eine mehr oder weniger subtile Form „sanfter Fremdbeeinflussung“. Denn
findet die Information in das Wissensgebäude des anderen Eingang, wird sie
sich seines Denkens, Fühlens und Verhaltens bemächtigen.
Aus der
Fülle des Lebensflusses schneiden wir willkürlich einzelne Segmente
heraus („Interpunktion“, Zergliederung), die wir dann miteinander
vergleichen. Auf der Suche nach Stabilität forschen wir nach
Identität, Ähnlichkeit und Unterschied. Ständig stellen wir
Beziehungen zwischen den von uns erzeugten Segmenten her. Als Ergebnis
dieses Bemühens erzeugen wir Zeit (= wiederholte Wahrnehmung eines
identischen Phänomens) und Raum (= gleichzeitige Wahrnehmung
mehrerer unterscheidbarer Phänomene). „Kausalität“ ist ein
Konstrukt, dass es uns ermöglicht, zwei Phänomene trotz vorhandener
Unterschiede als identisch zu erleben, weil es ein die Veränderung
erklärendes „kausales Bindeglied“ gibt. Offenbar verbessert es die
Überlebenschancen, wenn man im eigenen Erleben Regularitäten feststellen
kann. Schon der Begriff „Fakt“ (vom Lateinischen „facere“ = machen)
veranschaulicht, dass die Welt (die „Fakten“) letztlich Ergebnis
unseres eigenen Handelns sind. Ähnlich sprechen wir im Deutschen von
"Tatsachen". Was wir machen, sehen, hören oder
fühlen, hat viel mehr mit uns selbst (unseren eigenen Strukturen) zu tun
als mit Phänomenen, die wir außerhalb unserer Person wähnen.
Jeder Mensch verfügt über sein ureigenes Wissen,
das sich vom Wissen anderer mehr unterscheidet, als uns meist bewusst oder
lieb ist. Leider setzen viele Menschen immer wieder irrtümlicherweise
voraus, dass ihr Gegenüber das gleiche Wissen teilt, wie sie selbst. Dabei
leuchtet es ein, dass jeder Mensch völlig eigene Vorstellungen hat, wenn
er Begriffe wie „Vater“, „Mutter“, „Erfolg“ oder „Glück“ verwendet. Alle
Begriffe hängen zutiefst mit ureigenen Erfahrungen zusammen, die von
anderen Menschen nicht ohne weiteres vorausgesetzt oder nachvollzogen
werden können. Wer die erwähnten Begriffe (Konstrukte) in den Mund nimmt,
kann nicht erwarten, dass sie beim Zuhörer vergleichbare Erfahrungen in
Erinnerung rufen wie beim Sprecher. Dieser Umstand lässt sich auf die
Formel bringen: Über den Inhalt einer Botschaft
entscheidet immer der Empfänger.
Neues Wissen
entsteht durch „Störungen“ (Irritationen), die uns zwingen, unser
bisheriges Wissen zu erweitern bzw. zu modifizieren. So neigen wir im
allgemeinen dazu, Informationen und Interaktionen unseren bisherigen
Vorstellungen und Gewohnheiten anzupassen = zu assimilieren
(bei Begegnungen mit anderen gehen wir vom „typischen Verlauf“ aus). Erst
„Störungen“ nötigen uns dazu, unsere Vorstellungen und Gewohnheiten
dahingehend zu variieren, dass sie besser zu der betreffenden Störung
passen und uns so den Umgang mit dieser erleichtern (= akkomodieren).
Wer im Sinne
des radikalen Konstruktivismus denkt und handelt, wird zwangsläufig
toleranter gegenüber seinen Mitmenschen. Da man beim anderen nichts
voraussetzen darf, ist man ständig gehalten, sich um Einblicke in die
Erfahrungswelt des anderen zu bemühen. Vor allem „Bedeutungen“
können nicht vorausgesetzt werden, sondern müssen durch oft langwierige
Verhandlungen immer wieder mühsam als gemeinsames Konstrukt neu
erarbeitet werden.
Wer
konstruktivistisch denkt und lebt, erkennt an, dass wir in dauernder
Unsicherheit leben müssen. Dies kann durchaus „beruhigen“, da man sich
nicht mehr dem Stress aussetzen muss, vermeintlichen Sicherheiten oder
Gesetzen nachzujagen. Da man nichts beim anderen voraussetzen kann, bleibt
das Leben voller Überraschungen und damit spannend.
Für meine
psychotherapeutische Arbeit bedeutet dies,
-
dass ich
mich um ein Kennenlernen der Erfahrungswelt meiner Patienten
bemühe,
-
dass ich
möglichst oft „irritiere“, um „neues Wissen“ zugänglich zu machen
bzw. Weiterentwicklung zu fördern,
-
dass ich
dabei neue Informationen so auswähle und anbiete, dass sie zu den
vorhandenen Strukturen (Erfahrungen) möglichst passen, also „anschlussfähig“
sind,
-
dass ich
zu neuen Erfahrungen ermutige, da diese die Grundlage neuen
Wissens sind (und im Nervensystem offenbar anders verarbeitet werden als
überwiegend theoretische Informationen),
-
dass ich
meinen Patienten verdeutliche, dass sie vor allem etwas über sich
selbst aussagen, wenn sie anderen Menschen Eigenschaften und
Verhaltensweisen zuschreiben,
-
dass ich
meine Patienten für konstruktivistisches Denken und Verhalten zu
begeistern versuche, da es zu mehr Toleranz gegenüber anderen
und mehr Gelassenheit gegenüber dem (überwiegend unberechenbaren)
Leben verhilft.
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