Boston/Hamburg (pte002/30.08.2011/06:00) -
Eltern strukturieren den Stundenplan ihrer Kinder immer lückenloser und
lassen ihnen kaum Zeit für das freie Spiel im Freien mit anderen
Kindern. Sie tun damit nichts Gutes, warnen Forscher im "American
Journal of Play", das dem freien Spiel eine Sondernummer gewidmet hat. "Viele Kinder können gar nicht
mehr richtig spielen, da sie es nicht gelernt haben. Sie stehen bloß
herum, wechseln sprungartig von einem Spiel zum nächsten und
sozialisieren sich nicht", verdeutlicht Erdmute Partecke,
Psychotherapeutin und Expertin für Kindergartenpädagogik, gegenüber
pressetext.
Depression bis
Narzissmus
Eine Reihe von Gefahren des Spielverlustes dokumentieren die Autoren des
Fachblattes. Peter Gray vom Boston College http://bc.edu zeigt etwa
einen Zusammenhang mit dem Anstieg der Depressionen, Suizide,
Hilflosigkeitsgefühle und narzisstischer Störungen bei Kindern,
Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Peter LaFreniere von der University
of Maine http://umaine.edu beklagt den
Verlust der evolutionären Rolle des Spiels für die Stärkung von Knochen,
Muskeln und Herz sowie auch für den Feinschliff der Kommunikation, der
Empathie und der emotionalen Regulierung. Fix dabei ist auch das
Übergewichts-Risiko.
Kontrollsüchtige
Eltern
Für die Frage, was das Spielen ausgerottet hat, werden viele Faktoren
angeführt. Für Hara Estoff Marano, Autorin von "A Nation of Wimps" (Land
der Weicheier), tragen die
Eltern die Hauptverantwortung, da sie für ihre Kinder eine perfekt
kontrollierte Umgebung ersehnen, die ihnen die Werbung
schmackhaft macht. Deutlich werde das etwa an überzogener Hygiene,
jedoch auch in den Parks. "An einem schönen Sonntagmorgen sieht man
viele Väter auf Spielplätzen.
Bei jedem Kind steht ein Vater, der es am Ende der Mini-Rutsche auffängt
und jede Bewegung coacht. Jegliches Spielen wird so verhindert",
so die US-Psychologin.
Zur
Leere der Spielplätze tragen auch die Überorganisation mit Sport- und
Freizeitangeboten sowie die hohe Faszination von TV, Videogames und
Social Media bei. Schulen und Kindergärten haben jedoch ebenso
den in Deutschland verbreiteten Begriff "Freispiel" lange Zeit eher
fragwürdig praktiziert, betont Erdmute Partecke. "Wo im Kindergarten
zuvor die Erzieherin aufpasste, wollte man Anfang der 70er-Jahre liberal
sein und Kinder stets frei wählen lassen. Der Mythos des heilen
Kinderspiels, das man nicht stören darf, etablierte sich. Es wurde zum
Ideal, ohne dass man es näher erforschte."
Lieber weniger
Spielsachen
Partecke vertritt die Ansicht, dass man das Spielen am besten in gut
geführten Kinderkrippen erlernen kann. "Statt Kleinkinder in mit
Spielsachen voll gepackten Räumen zurückzulassen, sollte man lieber Reize reduzieren, indem
man nur Ausgewähltes da lässt. Bei guter Koordination und Förderung von
Gruppen-orientierten Spielen stärkt das die Vorstellungskraft, befähigt
zu anhaltender Beschäftigung mit einem Spiel und zu gemeinsamen
Handeln." Bei größeren Kindern sollten Erwachsene nicht nur
Aufsichtsperson sein, sondern freundlich zugewandte Beobachter, die
kompetent mitdenken und Vorschläge liefern.
Gut für das Spielenlernen ist laut den
US-Studienautoren auch das gemeinsame Spielen von Kindern
unterschiedlichen Alters.
"Ältere und kompetentere Kinder bilden das Gerüst, an dem sich die
Jüngeren beim sozialen Lernen orientieren, während auch die Älteren in
der Führungsrolle, als Beschützer oder als Lerner beim Lehren
etablieren", so Gray. Für Partecke ist eine Zusammenführung der Ein- bis
Dreijährigen und der Drei- bis Sechsjährigen sinnvoll. "Bis dahin
können Kleinere hinauswachsen und an Rollenspielen teilnehmen, die sie
zwar noch nicht verstehen, jedoch emotional mit ihnen verbunden sind.
Bei größeren Abständen ist die Altersspanne für gegenseitiges Lernen zu
groß."
Übersicht der "American Journal of
Play"-Artikel unter
http://www.journalofplay.org/sites/www.journalofplay.org/files/pdf-articles/
|