Stuttgart
(pte004/20.06.2011/06:05) - Unserer Gesellschaft gelingt es kaum, das
Thema Adipositas auf realistischer Basis zu diskutieren. "Übergewicht
bei Kindern und Jugendlichen gleicht einem Schönwetterthema, das derzeit
angesichts Fukushima, Griechenland-Krise und Aufständen in Nordafrika
von der Tagesordnung verschwunden ist. Das ist nicht angemessen - ebenso
wenig wie vormals seine Dramatisierung" erklärt Michael Zwick,
Herausgeber des Buches "Übergewicht und Adipositas bei Kindern und
Jugendlichen" im pressetext-Interview.
Weder
Epidemie noch Ruin
Eine Adipositas-Epidemie bei
Kindern gibt es nicht, so der Stuttgarter Soziologe. "Weder
ist die Krankheit ansteckend, noch so dramatisch wie oft dargestellt
wird." Zwar sei die Entwicklung bei Jugendlichen uneinheitlich, bei
Schulanfängern stagnieren hingegen in einigen Bundesländern die Anteile
Übergewichtiger und Adipöser. Deutschland stehe EU-weit gut da mit acht
Prozent Übergewichtigen und drei Prozent Adipösen bei den fünf- bis
17-Jährigen. "Problematisch ist, dass Gewichtsklassen bei
Minderjährigen nach verschiedenen Verfahren eingeteilt werden, die teils
auf statistische Willkür deuten", betont Zwick.
"Völlig
überzogen" sei es, in dicken Kindern den drohenden Ruin der
Sozialsysteme zu vermuten, so der Experte. Erst
Fettleibigkeit sei mit ernsten Krankheitsrisiken verbunden, während der
Zusammenhang bei Übergewicht nur schwach sei. "Zudem verbietet sich ein
einseitiger Blick, da an Adipositas viele verdienen, die sich ihrer
Entstehung, Erforschung, Diagnose, Therapie und Prävention widmen. Auch
sind Adipöse ein eigenes Käufersegment." Gegenteilige Interessen hätten
hingegen die Nahrungsindustrie, die Konsolen-, Bildschirm- und
Gameshersteller und schließlich die Steuerzahler und
Versicherungsträger, die die Rechnung bezahlen. "Finanziell handelt es
sich bei Übergewicht und Adipositas gleichsam um ein Nullsummenspiel",
so Zwick.
Übertreibung stigmatisiert
Nicht
unbehelligt lässt dieser Diskurs allerdings die von Übergewicht
Betroffenen, warnt der Forscher. Wie er in Fokusgruppen zeigen konnte, ist das Bild des "gemütlichen,
glücklichen Dicken" ein realitätsfernes Klischee. "Je radikaler die
Darstellung von Übergewicht, desto stärker der Schlankheitswahn.
Dicksein ist auch bei Kindern mega-out und bringt hohen Leidensdruck
durch Hänseleien, Stigmatisierung und andere Konflikte, die auf das
Körpergewicht zurückgehen." Wünschenswert wäre für den Experten eine ähnliche Entkrampfung, wie sie
etwa bei Behinderten durch positiveres Medienimage schon ansatzweise
gelungen sei.
Ursprung
in der Familie
Adipositas geht primär auf die
Überflussgesellschaft und die Auflösung der Familie zurück, argumentiert
Zwick. Stark-Essen alleine mache ebenso wenig dick wie der passive
Lebensstil. "Gefährlich ist die Koppelung. Kompetente,
regelgeleitete und gesunde Ernährung und Freizeit muss die Familie
vermitteln, doch ist deren Dynamik oft problematisch. Wenige kaufen,
kochen, essen oder verbringen die Freizeit gemeinsam. Viele betroffene Kinder sind
sich in Ernährung und Freizeit zudem selbst überlassen." Die oft
bemühte Genetik sei weniger
wichtig, was Zwick durch das massive Reich-Arm-Gefälle bei Adipositas
und die zu rapide Zunahme an Übergewichtigen etwa in den 90er-Jahren
begründet.
Bei
betroffenen Familien fehlt laut Zwick oftmals auch das
Problembewusstsein, weshalb man sie als Adressaten für Prävention kaum
erreichen kann. Bildungseinrichtungen müssten häufig erzieherische
Aufgaben übernehmen, Gesundheit als Querschnittsaufgabe behandeln und
mehr Bewegung und Sport anbieten. Aber auch gesellschaftliche Strukturen
sollten verbessert werden. "Das
reicht von einfachen Kennzeichnungen, Subventionsstreichungen und
Werbeverboten für besonders energiereiche Lebensmittel bis zur
Stadtentwicklung, die dem Leitbild 'Bewegung statt Auto' folgt.
Ob die Politik derartigen Mut zur Weitsicht beweist, bleibt abzuwarten."
|