Der befreiende
Schnitt ins eigene Fleisch
DGKJP:
Selbstverletzendes Verhalten unter Jugendlichen weit verbreitet
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und
Jugendpsychiatrie (DGKJP) registriert eine dramatische Zunahme von
selbstverletzendem Verhalten vor allem unter Mädchen und jungen Frauen.
Bis zu einem Viertel der Patientinnen, die wegen Essstörungen, Ängsten
oder Depressionen in Behandlung sind, fügen sich selbst Schnittwunden
zu.
Seit rund 30 Jahren beobachten Kinder- und Jugendpsychiater, dass sich
immer mehr Jugendliche mit Messern, Klingen, Scheren und Scherben
blutende Wunden, vor allem an den Unterarmen, zufügen. „Der Drang, sich
selbst zu verletzen, hat nichts mit Masochismus zu tun, denn das
Schmerzempfinden ist in diesen Momenten deutlich reduziert", erläutert
Prof. Dr. Franz Resch, Vorsitzender der DGKJP. „Die jungen Frauen suchen
mit dem Schnitt ins eigene Fleisch Entlastung von extremem inneren
Druck." Als Auslöser reichen oft Nichtigkeiten: Der harmlose Streit mit
dem Mitschüler, die freundliche Ermahnung vom Lehrer werden zu
persönlichen Katastrophen. Prof. Resch: „Wut, Verzweiflung und Angst
mischen sich mit Hilf- und Hoffnungslosigkeit. Die Stimmung schlägt um
in Selbsthass und steigert sich zu dem starken Wunsch, sich selbst zu
verletzen."
In dieser Situation klinken sich die Betroffenen häufig aus: Sie geraten
in hypnose- oder tranceähnliche
Zustände – und finden sich nach dem „Aufwachen" mit aufgeschlitzten
Armen wieder. Das Schneiden beruhigt und baut Spannungen ab. Prof.
Resch: „Die Erleichterung ist nur von kurzer Dauer: Schnell bauen sich
Ekel, Scham und Schuld wieder auf. Ohne professionelle Hilfe findet kaum
eine Betroffene aus diesem Teufelskreis heraus. Angehörige, Freunde oder
Lehrer, die Wunden an den Unterarmen von Jugendlichen bemerken, sollten
einen Jugendpsychiater ansprechen."
Ursachen: Traumatisierungen in der Kindheit
Über die Ursachen von selbstverletzendem Verhalten ist wenig bekannt.
Die DGKJP vermutet Störungen der Impulskontrolle und ein Mangel des
Botenstoffs Serotonin, der für die Kommunikation von Nervenzellen im
Hirn große Bedeutung hat. Begünstigt wird selbstverletzendes Verhalten
durch Traumatisierungen in Kindheit und Jugend: Sexueller Missbrauch,
körperliche Misshandlungen, Konflikte und Gewalt in der Familie,
mangelnde Zuneigung, der Verlust eines Elternteils, chronische
Krankheiten oder mehrfache Operationen gelten als Risikofaktoren. Das
normale Leben ist für die Betroffenen erschwert: Sie leiden unter ihrer
Vergangenheit, haben kein Selbstvertrauen mehr, den Lebensmut verloren
und ziehen sich immer weiter zurück.
Therapie: Viel Geduld nötig
Eine gute Arzt-Patienten-Beziehung und der Wille der Betroffenen,
tatsächlich etwas ändern zu wollen, sind Voraussetzungen für eine Erfolg
versprechende Therapie von selbstverletzendem Verhalten. Kombiniert
werden medikamentöse Maßnahmen, z.B. Antidepressiva, Neuroleptika oder
Lithium, und Psychotherapie, insbesondere verhaltenstherapeutische sowie
tiefenpsychologische Ansätze zur Traumabewältigung. Sie werden ergänzt
durch Methoden, bei denen auch die Familie integriert wird. Die Therapie
fordert meist viel Zeit und Geduld von allen Seiten. Die Patienten
sammeln während der Therapie Wissen über ihr Krankheitsbild und werden
zu Experten in eigener Sache. Sie lernen in Rollenspielen und
Gruppengesprächen, mit belastenden Situationen anders umzugehen,
erfahren viel über Gefühle und lernen, auch nein zu sagen.
Quelle:
DKJP |