Nach wie vor ist die Medizin unseres Kulturkreises noch
stark vom „Maschinenmodell“ geprägt. Und so wie sich (zumindest bislang)
die meisten Maschinen nicht selbst „reparieren“ können, erwarten auch
viele Patienten, dass ihr Arzt oder Psychotherapeut entscheidend das
Geschehen gestaltet und sie selbst sich lediglich „behandeln“ lassen
(„fremdorganisatorische Sichtweise“). Dabei hat der griechische Arzt
Hippokrates schon vor rund 2.400 Jahren festgestellt, dass es die Natur
ist, die heilt, und nicht der Arzt („Medicus curat, natura sanat“).
Zumindest in der Psychotherapie verbreitet sich zunehmend die Haltung,
nach der es gilt – ausgehend von systemtheoretischem Denken -, die
Selbstheilungs- bzw. Selbstorganisationskräfte des Patienten zu stärken.
Ein prominenter Vertreter dieser Sicht- und Vorgehensweise ist der
Psychoanalytiker, EMDR-Therapeut und Klinikdirektor Reinhard Plassmann,
der dem Ansatz ein ganzes Buch gewidmet hat („Selbstorganisation. Über
Heilungsprozesse in der Psychotherapie“). Plassmann betont, dass es für
die Problembewältigung mehr darauf ankommt, „Prozesse“ (also Vorgänge /
Abläufe) zu verstehen als deren Inhalt. Beispiel: Die Art und Weise, wie
ein Patient mit wichtigen Bezugspersonen umgeht, ist für seine
persönliche Weiterentwicklung („Heilung“) meist bedeutsamer als die
Inhalte, über die er sich mit diesen Bezugspersonen möglicherweise
streitet. Die Veränderung des typischen Ablaufs eröffnet einen
qualitativen Fortschritt, weniger eine Entscheidung zum jeweiligen Inhalt.
Ein
„prozessorientierter“ Helfer schafft für seine Patienten vor allem günstige
Rahmenbedingungen, in denen deren „Selbstorganisationsvermögen“ sich besser
entfalten kann als bislang. Hierbei kann es oft hilfreicher sein, in den
Startblöcken harrende Entwicklungen zuzulassen („Die Kunst des Lassens“) als
durch Tun etwas Bestimmtes erzwingen zu wollen. So kann sich (im optimalen
Fall) zwischen den Beteiligten ein für alle förderlicher Rhythmus der
Interaktion einstellen. Entwicklungsfördernde Rahmenbedingungen entstehen auch
dadurch, dass der Arzt oder Psychotherapeut dem Patienten Stärken
(„Ressourcen“) bewusst macht, die zwar im Patienten angelegt sind, auf die er
aber noch keinen optimalen Zugriff hat. Plassmann unterscheidet zwischen
dynamischen und Standardressourcen. Zu den letztgenannten gehören
beispielsweise körperliche Fähigkeiten oder das Vermögen kognitiv Muster zu
durchbrechen. Sie sind heute Gegenstand der „positiven Psychotherapie“ und
lassen sich meist auch feststellen, ohne dass es der Interaktion mit einem
Untersucher bedarf. „Dynamische Ressourcen“ zeigen sich dagegen erst in der
Interaktion mit anderen Personen und gehen daher leicht unter, sofern sie
nicht vom Helfer benannt und bewusst gemacht werden. Dynamische Ressourcen
entwickeln sich von Augenblick zu Augenblick weiter und können zum Beispiel
eine veränderte Körperhaltung oder Mimik oder eine verbesserte soziale
Situation sein. Nach Plassmann macht es Sinn, dass sich der Patient auf eine
solche Ressource konzentriert und dabei seinen Organismus „bilateral
stimuliert“. Offenbar setzt ein solches Vorgehen Selbstorganisationsprozesse
in Gang, welche die Ressource besser verfügbar machen. Allein schon dadurch
verschwindet mitunter manches Problem wie von selbst (sog.
Absorptionsphänomen). Die Technik der bilateralen Stimulation entstammt der Traumabehandlungsmethode EMDR und sieht vor, dass während des Konzentrierens
auf Gefühle und Gedanken die beiden Körper- bzw. Gehirnhälften abwechseln
stimuliert werden (z.B. durch Augenbewegungen, Geräusche oder Berührungen).
Um die
Selbstorganisationsmöglichkeiten eines Patienten optimal zu fördern, ist es
wichtig, ihn vorab zu „stabilisieren“ (z.B. durch Ressourcenaktivierung). Erst
dann kann durch ein Pendeln („Oszillieren“) zwischen Fähigkeiten und
Belastungen (Traumata) ein Heilungsprozess in Gang gesetzt werden. Dieser
besteht in dem Vermögen, zwischen einem Traumaschema und Heilungsschemata
dynamisch hin- und herpendeln zu können und damit nicht länger einer Fixierung
auf das Traumaschema ausgeliefert zu sein. Heilende Pendelprozesse lassen sich
letztlich nur dann in Gang setzen, wenn sie sich an der Emotion orientieren,
die den Patienten momentan gerade bewegt.
Quelle: Reinhard Plassmann:
Selbstorganisation- Über Heilungsprozesse in der Psychotherapie.
Psychosozial-Verlag. Gießen 2011. ISBN 978-3-8379-2172-4. 339 Seiten. Euro
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