Wenn
man davon ausgeht, dass Religiosität und Spiritualität evolutionär
bedingt sind, dann stellt sich die Frage, welchen Selektionsvorteil
diese Verhaltensweisen boten. Anders wäre es nicht verständlich, dass
Menschen schon in der Vorzeit für religiöse Praktiken einen zum Teil
erheblichen Aufwand getrieben haben, der für Nahrungssuche und
Partnerwahl nicht mehr eingesetzt werden konnte. Spiritualität konnte
schwer verständliche Ereignisse erklären, eröffnete die Möglichkeit,
Wünsche an höhere Mächte zu richten und durch Rituale Hilfe zu erbitten.
Es ist denkbar, dass sich Spiritualität später zur Religiosität
verdichtete, die dann durch Festsetzung von Normen, beispielsweise die
Zehn Gebote, zur kulturellen Vielfalt von Religionen führte. Trotz der
Einwände von Ludwig Feuerbach (Die Religion ist eine Projektion des
menschlichen Geistes) bis Sigmund Freud (Religion als Zwangsneurose)
weiß man heute aus verschiedenen Untersuchungen, dass Religiosität die
physische und psychische Gesundheit positiv beeinflusst und zu größerer
Lebenszufriedenheit führt. Ein Aufsatz in der Zeitschrift
"Psychiatrische Praxis" (Georg Thieme Verlag, Stuttgart) weist darüber
hinaus nach, dass Religiosität im therapeutischen Prozess eine bisher
nur wenig genutzte potenzielle Ressource darstellen kann.
Ausschlaggebend für die gesundheitliche Relevanz sind vor allem eine
verinnerlichte religiöse Sozialisation und bewusst gelebte Religiosität.
Vor allem nach kritischen Lebensereignissen kann sich Religiosität als
hilfreiche Ressource erweisen, etwa durch die Überzeugung, dass es sich
um Gottes Plan gehandelt hat. Eine nur äußerliche Religiosität, die sich
im Wesentlichen in Kirchgängen erschöpft, kann sich auch negativ
auswirken, etwa durch negatives Coping mit Vorwürfen gegen Gott, wie
etwa am Beispiel von Depressivität und Angststörungen ermittelt wurde.
Ebenso können religiöse Gemeinschaften eine Quelle von Hilfe, Trost und
Anteil sein, sie können aber auch zu gesellschaftlicher Isolation
führen, wenn sozialer Druck ausgeübt wird.
Religiöse Überzeugungssysteme können Orientierung geben und Lebenssinn
generieren, beinhalten aber auch häufig eine gesellschaftskritische
Tendenz, die alternative Werte formuliert, wie etwa Demut, soziales
Engagement, Verzicht statt Macht. Dadurch können sie von Erfolgs- und
Konformitätsdruck und somit von Stress befreien und bei gesundheitlicher
Beeinträchtigung die Bewältigung erleichtern. Anders als in den USA, wo
"religious counseling" weithin akzeptiert sind, etablieren sich im
deutschsprachigen Raum erst allmählich Einrichtungen, die gezielt
religiöse Inhalte in ihr Behandlungskonzept einbeziehen. Ein
nennenswerter Therapieeffekt konnte bisher, außer bei gläubigen
Muslimen, nicht nachgewiesen werden.
Religiosität und psychische Gesundheit. Eine Übersicht über Befunde,
Erklärungsansätze und Konsequenzen für die klinische Praxis.
Psychiat Prax 2007; 34; Nr. 2; S. 58-65.
Dipl.-Psych. Dipl.-Theol. Constantin Klein, Leipzig,
Institut für Psychologie II.
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