Vorbemerkung
Gymnastik und gymnastische Übungen zum Erhalt und zur Steigerung der
Leistungsfähigkeit sind heutzutage für viele Menschen, und
insbesondere für viele Sporttreibende, selbstverständlicher
Bestandteil des Alltags und des Trainings. Selten jedoch wird ihre
Wirkung von Sportlern oder Trainern hinterfragt. Der Umgang mit ihr
ist zur Gewohnheit geworden. Rumpfbeugen vorwärts - rückwärts, Arme
schwingen, Kopfkreisen; all dies kennt sicher jeder und wenn es noch
aus der Schulzeit herrührt. Übungen über deren Sinn oder Unsinn sich
schon lange niemand mehr Gedanken macht. Das hat für uns vor mehr
als 120 Jahren Turnvater Jahn erledigt. Doch vor dem Hintergrund
einer gestiegenen Bedeutung des Sports als Freizeitbeschäftigung und
der Entwicklung des Leistungssports, muss über die Rolle der
Gymnastik als Element des Trainings neu nachgedacht werden.
Wie sehr sich Nachdenken
lohnt, beweist die vor einiger Zeit über den Sport hereingebrochene
"Stretching-Welle", die das Verhalten rund um die Gymnastik
gründlich verändert hat. Ein Amerikaner namens HOLT war 1971 der
erste, der diese Dehnungstechnik für den Sport entdeckte und
aufarbeitete. Er nutzte dabei seine Erfahrungen in der
Physiotherapie und manuellen Medizin mit dem Ziel, ein "optimales
Muskel- und Gelenkverhalten zu fördern und darüber hinaus regelmäßig
Einfluss zu nehmen auf einen günstig abgestimmten Bewegungsablauf
innerhalb und außerhalb des sportlichen Trainings."
Die Zeiten der
"Zerr-Gymnastik" aus vergangenen Jahrzehnten sind
weitgehend vorbei. Man hat herausgefunden,
dass diese ruckartigen Schleuderbewegungen die Elastizität des
Muskels nicht erhöhen, sondern eher vermindern. Die Gymnastik von
heute hat viele neue Namen, wie Funktions-Gymnastik, Stretching,
Schon-Gymnastik etc., Alle sollten Dehnen und Kräftigen
mit dem Ziel der optimalen Beweglichkeit zum Inhalt haben.
DEHNEN
Warum sollte ein Muskel gut
gedehnt sein, wird mancher Zeitgenosse sich fragen? Die Antwort ist
ganz einfach: Ein gut gedehnter Muskel ist elastischer als ein nicht
gedehnter. Und dies hat mehrere Vorteile.
1.) Er ist weniger
verletzungsanfällig, da er bei plötzlich auftretenden (Kraft- )
Belastungen, besser nachgeben kann (Geschmeidigkeit).
2.) Das Zusammenspiel eines
gut gedehnten Muskels mit seinem Gegenspieler (Agonist - Antagonist) innerhalb eines Bewegungsablaufes ist ökonomischer, weil der
Gegenspieler (Antagonist) aufgrund der höheren Elastizität des Agonisten, weniger Kraft aufbringen muss. Die intermuskuläre
Koordination wird verbessert.
3.) Ein gut gedehnter Muskel
ist im allgemeinen belastbarer und regeneriert sich
schneller. Der Elastizitätszuwachs beruht auf dem Phänomen, dass ein
Muskel nach erfolgter Dehnung einen "Dehnungsrückstand" für einige
Zeit zurückbehält. Dabei ist sowohl die Dehnungszeit, als auch die
"Endposition" des Muskels bei der Dehnung von entscheidender
Bedeutung. Den erwünschten Dehnungsrückstand erhält man erst, wenn
die Dehnung bis kurz vor die Schmerzgrenze ausgeführt wird.
Außerdem ist der Dehnungsrückstand umso größer, je länger die
Dehnungszeit auf den Muskel einwirkt. Optimal sind 25 - 30 Sekunden,
die der zur dehnende Muskel in der "Endposition" statisch gehalten
bzw. fixiert werden sollte. Deshalb wird diese Technik auch "statisches Dehnen"
genannt.
Den Gegensatz bildet das
Anspannungs-Entspannungs-Dehnen. Dabei wird der zu dehnende Muskel
durch eine vorangehende Anspannung belastet und erst im Anschluss
daran gedehnt. Vier Phasen haben sich bei der letztgenannten Art der
Dehnung bewährt:
Phase 1 - statische Dehnung 5
- 10 sec.
Phase 2 - isometrische
Anspannung ( d. h. statisch, ohne Längenänderung ) 15 - 20 sec.
Phase 3 - kurzzeitige
Entspannung 2 - 4 sec.
Phase 4 - statische Dehnung 15
- 20 sec.
Während des Dehnens sollte manruhig und gleichmäßig weiteratmen und niemals den Atem anhalten.
Es ist sinnvoll, eine bequeme Position einzunehmen. Die Wirkung des
Dehnens ist größer, wenn man sich insgesamt entspannt verhält.
KRÄFTIGEN
Auch ein gut und proportional
gekräftigter Muskel hat viele Vorteile.
1.) Je kräftiger ein Muskel
ist, desto relativ geringer ist die Belastung, die er im Alltag oder
beim Sport erbringen muss.
BEISPIEL: Wenn ein 70
KG schwerer Mensch die Treppe steigt, und die Kraft der Beinmuskeln
maximal 70 KG beträgt, muss die Muskulatur immer 100 Prozent der zur
Verfügung stehenden Kraft, beim Treppensteigen erbringen. Ist die
Muskelkraft höher, z. B. 140 kg, muss der Betreffende nur 50 Prozent der
Maximalkraft einsetzen.
2.) Ein gekräftigter Muskel
stabilisiert besser (Rumpfstabilisation ).
3.) Gekräftigte Muskulatur
schützt besonders anfällige Gelenke (Knie-, Ellenbogen- und
Wirbelbogengelenke) vor Überlastung.
4.) Eine Kräftigung der
Muskulatur entlastet die beteiligten Sehnen
mechanisch.
Bei der Kräftigung der
Muskulatur sollte auf Funkionalität geachtet werden. Es gilt
weniger, Muskelberge aufzubauen (Massenzunahme), sondern die
Aufgaben der jeweiligen Muskeln zu beachten. Wer einen
bestimmten Muskel kräftigt, sollte insbesondere nicht vergessen, den Gegenspieler
(Antagonisten) ebenfalls zu stärken. Muskelpaare stehen immer in
einem sinnvollen Kraftverhältnis zueinander. Man
spricht von Muskelgleichgewichten (Balancen). Verändern sich diese
Gleichgewichte aufgrund von Kräftigung oder Abschwächung, kommt es
zu Ungleichgewichten, den gefürchteten "muskulären Dysbalancen".
BEISPIEL: Am Kniegelenk
arbeiten auf der
Vorderseite die Unterschenkelstrecker und auf der Rückseite die
Unterschenkelbeuger zusammen. Das optimale Kraftverhältnis zwischen Streckern
und
Beugern beträgt im Kniegelenk 100 zu 67 Prozent. Mit anderen
Worten: die Beuger
sollten 67 Prozent der Kraft der Strecker aufbringen . Leider neigen die
Beuger zur Abschwächung und die Strecker zur Verkürzung, so dass es
bei den meisten Menschen und insbesondere bei Fußballern(!), zu
beträchtlichen muskulären Dysbalancen kommt.
Teilweise erbringen die Beuger
nur 40 Prozent der Leistung der Strecker. Aufgrund dieses Missverhältnisses erhöht
sich das
Verletzungsrisiko ernorm. Im ganzen Körper gibt es Muskeln und
Muskelgruppen, die zur Abschwächung neigen und daher regelmäßig
gekräftigt werden müssen. Die wichtigsten von ihnen sind: die gesamte
Gesäßmuskulatur ( Po ), die Rückenstrecker und die Bauchmuskulatur.
Die zur Verkürzung neigenden und daher bevorzugt zu dehnenden
Muskelgruppen sind: die Brustmuskulatur, die Hüftbeuger und die
Unterschenkelstrecker ( s. o. ).
TIPPS
A ) Dehnen und Kräftigen
sollten immer eine Einheit darstellen. Wenn Sie gekräftigt haben,
dehnen Sie immer danach.
B ) Beginnen Sie beim Dehnen
immer mit der "schwächeren" Seite, da man automatisch mehr Zeit für
die Seite aufbringt, mit der man anfängt.
C ) Verhalten Sie sich beim
Dehnen und Kräftigen "rückenbewusst"! Vermeiden Sie
also
unphysiologische Belastungen in der Lendenwirbelgegend. Halten Sie
dazu den Kopf immer in Verlängerung des Rückens!
D ) Atmen Sie ruhig
und gleichmäßig. Vermeiden Sie unnötige Pressatmung, bei der es zu
hohen Blutdruckanstiegen kommen kann!
E ) Verzichten Sie auf das
Training, wenn Sie sich verletzen oder
Schmerzen haben. Lassen Sie sich vom Hausarzt untersuchen.
F ) Entspannen Sie sich nach
einem anstrengendem
Training durch Dampfbäder, Sauna und Massagen. Leiten Sie so die Regeneration bestmöglich ein.
Wenn sie diese Hinweise
beachten und regelmäßig dehnen und kräftigen, werden sie Ihren
Bewegungsapparat funktionstüchtig erhalten und so altersbedingten Leistungseinbussen
optimal entgegenwirken. |