Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Susanne Poelchau für Eckpunkt  -

In der Reihe Große Gefühle (SWR2, 10.11.2004, 10 Uhr 05)

„In den Boden versinken ....„  
Eine Sendung über die Scham
(als pdf-Datei)


ZITAT

„ Ich versuche mit aller Kraft, meine „Schwächen„ vor meiner Umwelt zu verbergen. Ich denke jetzt oft in den entscheidenden Situationen, vor allem im Kontakt mit anderen Menschen, daran, was passieren würde, wenn ich mich so zeige, wie ich bin. ....Warum denke ich so beharrlich, dass sich meine Mitmenschen sich über mich lustig machen oder sich sogar von mir abwenden könnten oder mir etwas anderes schlimmes passieren könnte? Und selbst wenn, was wäre so schlimm daran?"

Ein Ausschnitt aus dem Therapie- Tagebuch eines 45- jährigen Mannes. Das Besondere an diesem Tagebuch ist, dass es fortlaufend im Internet veröffentlicht wird. Bei dem „Live- Therapie- Tagebuch„ handelt sich um ein Experiment von Dr. Herbert Mück. Der Facharzt für Psycho-therapeutische Medizin hat eine Praxis in Köln.

1. Zusp. Mück

„Also die Idee ist spontan im Kontakt mit dem Patienten entstanden, als ich merkte, dass es um das Thema Scham ging und dass es auch ein kluger Patient ist, der sich gut ausdrücken kann und sehr offen und bereit ist - er hat ja auch schon Erfahrung mit Therapie - neue Wege zu gehen. Ein wichtiger Aspekt der übermäßigen Scham  - ein gewisses Maß an Scham sollten wir natürlich alle haben - ist ja das Problem, sich zu zeigen. Und dies ist nun eine Form, sich der Welt im Internet zu zeigen. Zwar in anonymisierter Form - das ist auch wichtig, denn der Mann steht voll im Leben - ja so ist das passiert, er war auch direkt einverstanden und das war auch sehr schön weil wir von der ersten Sitzung an unsere Gesprächsserie dokumentieren konnten.„


Der Patient - nennen wir ihn Michael, denn er will auch in dieser Sendung anonym bleiben -  kam das erstemal vor knapp einem Jahr aus Norddeutschland zu Herbert Mück in die Praxis. Rein äußerlich gesehen hatte er nichts zu klagen: Er lebte in einer liebevollen und gut funktionierenden Beziehung und war beruflich sehr erfolgreich. Doch er litt immer wieder an unerklärlichen Angstgefühlen und Depressionen. Auch eine erste Therapie hatte ihm da nicht wirklich geholfen. Nach der ersten Sitzung mit Dr. Mück schreibt Michael:

ZITAT

Mir war natürlich klar, dass ich mich in meinem Leben in vielen Situationen unwohl gefühlt habe, weil ich meine schlechten Gefühle verbergen wollte und weil ich mich vor anderen nicht blamieren wollte. Das betraf mein Handeln, bei dem zum Beispiel meine Hände zittern konnten, mein Reden, bei dem ich zum Beispiel befürchtete, einen Blackout zu bekommen und auch ganz besonders meine Körperhaltung und meine Ausstrahlung. Ich wollte einfach nicht schwach wirken, es sollte keiner sehen, wie angespannt ich war. Durch das Gespräch wurde mir zum ersten Mal so richtig klar, dass ich ein viel zu übertriebenes Schamgefühl habe. Das Sinnlose dabei ist, dass ich mich dabei völlig verzerrt wahrnehme und auch die Wertungen von anderen völlig falsch einschätze und bewerte. Meine Überzeugung war, dass andere mich abwertend betrachten, wenn ich klein und schwach wirke und vor allem wenn sie wüssten, dass ich Ängste habe und depressiv bin. (...)

2. Zusp. Mück

Er hat von Anfang an Situationen beschrieben, in denen er sich unwohl fühlt. Das waren oft Situationen mit anderen Menschen zusammen, wo er unruhig wurde, anfing zu zittern, sich beobachtet fühlte, und eine Spirale in Gang setzte, die die Situation immer unerträglicher machte und der er sich dann teilweise auch entzogen hat. Und wenn man so was hört, sollte die Glocke klingeln, ob hier übermäßige Scham vielleicht eine Rolle spielt. Das war in der ersten Sitzung so, das das zur Sprache kam und ich ihm das als Thema angeboten habe, und so prüft man ja als auch Therapeut, ob man so etwas zum Schwingen bringt und das war schnell der Fall und dann sind wir auf dieser Ebene besonders schnell eingestiegen. Auch wenn das jetzt keine reine Schamtherapie ist, die wir betreiben.„ 

Scham gehört zu den mächtigen Gefühlen, die menschliches Verhalten steuern. An sich ist sie ein wichtiges Gefühl: In Maßen fördert sie die Fähigkeit, sich in andere hinein zu versetzen und Mitgefühl zu entwickeln. Scham schärft den Sinn dafür, was in einer bestimmten Umgebung oder Gesellschaft angebracht ist und was unangemessen wäre. Sie ist eine Reaktion auf Kritik von anderen und geht mit der Angst Hand in Hand, von ihnen verachtet zu werden. Der französische Psychoanalytiker Serge Tisseron schreibt  in seinem Buch „Phänomen Scham„:

ZITAT

„Der gemeinsame Nenner aller Formen der Scham ist die Angst ausgeschlossen zu werden, also kein bloßer Liebesentzug sondern der Verlust jeder Form von Interesse.„

Ähnlich äußert sich auch der Soziologe und Historiker Norbert Elias über die Scham:

ZITAT

„Es ist - oberflächlich betrachtet- eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer...„ 

So ist es auch nicht verwunderlich, dass Menschen in Kulturen, bei denen das Kollektiv im Vordergrund steht,  mit mehr Schamgefühlen auf die Verletzung von gesetzlichen und religiösen Normen reagieren als Menschen aus individualistischen Kulturen wie der unseren. Das zeigt eine Untersuchung, für die Deutsche, Kurden und Libanesen befragt wurden.

Scham stört die „fraglose Selbstverständlichkeit des Selbstgefühls„  - so der Psychoanalytiker Micha Hilgers. Sie schärft unser Bewußtsein für uns als Person und dafür, wie uns andere erleben. Scham hat auch etwas mit Erkenntnis zu tun: Die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies beschreibt dies symbolisch: Adam und Eva fühlten sich im Paradies eins mit der Welt. Erst als sie verbotenerweise einen Apfel vom "Baum der Erkenntnis" aßen, wurden sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Sie schämten sich, bastelten sich einen Lendenschurz und versteckten sich vor Gott, der sie schließlich aus dem Paradies vertrieb.

Zu einem Problem wird Scham dann, wenn es an ihr mangelt oder wenn sie im Übermaß vorhanden ist. Schamloses Verhalten strapaziert die Umwelt, ist unangenehm und antisozial. Wer sich hingegen zu sehr schämt, ist außerstande, Unterschiede zu ertragen. Ihm fehlt es an Stolz auf seine Eigenarten und seine unverwechselbare Identität.

Scham hat tatsächlich etwas sehr verschämtes. Wer sich schämt, ist unsicher, möchte am liebsten im Boden versinken. Deshalb kommt die Scham in der Regel auch in Therapien nicht gleich  zur Sprache. Doch sie ist häufig hinter bestimmten Äußerungen oder Verhaltensweisen zu erkennen.

3. Zusp.

Sehr oft sind das Menschen, die sich die Frage stellen, was die anderen wohl über mich denken, die fürchten was andere denken, dann reden Menschen mit Scham häufig mit dem Wort „man„, was man tut, man tun sollte usw. es sind Menschen, die zu Selbstabwertungen und zur Abwertung anderer neigen, Leute die schlecht nein sagen können, die schwer konkurrieren könne, die sich anpassen, die sich nicht richtig freuen oder stolz sein können, die - das klang jetzt bei dem Patienten auch schon an- etwas kontaktscheu wirken, sich minderwertig fühlen und - das ist jetzt etwas abstrakt schon - die Identitätsprobleme haben, nicht so genau wissen, wer sie eigentlich sind. Sie sehen also, das ist schon eine riesige Menge, all das sind immer nur Anzeichen, kein Beweis - und im Gespräch mit den Patienten kann man dann herausfinden, ob das eine heiße Spur sein kann.„

Herbert Mück erlebt auch immer wieder, dass sich die Scham hinter bestimmten psychischen Störungen „versteckt„ :

4. Zusp.

Es gibt auch Diagnosen, hinter denen sich  als Schwerpunkt die Scham versteckt. Ein Beispiel wären Esstörungen, oder auch hinter Depressionen und Ängsten kann sich besonders oft Scham verstecken. Hinter der sogenannten narzistischen Persönlichkeit - also bei Menschen, die Probleme mit ihrem Selbstwert haben - da ist es hilfreich wenn man sozusagen an der Basis arbeitet mit diesem Gefühl.„

In der Frage, in welchem Alter Scham im Leben eines Menschen erstmals auftritt, besteht keine Einigkeit. Manche Wissenschaftler deuten sogar schon bei Babies das Abwenden des Kopfes als Scham. Auch das „Fremdeln„ im Alter von etwa acht Monaten wird von manchen als eine ganz frühe Form der sozialen Scham gedeutet.

Sicher kann man davon ausgehen, dass Kinder im Alter von ein bis zwei Jahren in der Lage sind, Scham zu empfinden: In der Zeit  lernen sie, sich von ihren Müttern weg zu bewegen, sie können sich in einem Spiegel selbst erkennen, sie reagieren sichtbar mit Stolz, wenn sie etwas geschafft haben, und sie entwickeln Hemmungen und Scham, wenn ihre Freude nicht angemessen beantwortet wird. Da zeigt etwa ein Kind seiner Mutter voller Stolz ein selbstgemaltes Bild. Doch statt Freude zu ernten, wird es ausgelacht und verspottet. Sich an solche Situatuionen überhaupt zu erinnern fällt den meisten Menschen sehr schwer. Denn es ist mit Gefühlen von Demütigung, Peinlichkeit und großer Hilflosigkeit verbunden. Herbert Mück stößt in Therapien auch häufig auf Familien-geschichten, in denen die Scham sozusagen „von einer Generation zur nächsten weitergegeben„ wird. Das war auch ein ganz wichtiger Schlüssel bei Michael, der seine Erfahrungen im Therapie- Tagebuch festgehalten hat.

ZITAT

Wir kamen in der Therapiestunde auf meine Kindheit zu sprechen. (...)

Meine Aufgabe für die Zeit zwischen den Sitzungen war deshalb, mich intensiv mit meinen Eltern über meine ersten Lebensjahre, über ihr eigenes Leben und auch über das Leben meiner Großeltern zu unterhalten. Bei dem Gespräch mit meiner Eltern wusste ich zuerst gar nicht, wie ich die Sache angehen soll, was ich fragen soll oder was wichtig für mich sein könnte. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass die Vergangenheit von meinem Vater für mich interessant sein könnte, weil ich glaube, dass wir uns teilweise sehr ähnlich sind, dass vor allem unser Schamgefühl sehr ausgeprägt ist. (...)

Besonders wichtig war für mich die Geschichte, als er nach Kriegsende mit Mutter, Bruder und Schwester in einer Nacht und Nebelaktion aus dem jetzigen Oberschlesien in den Westen flüchten musste, nachdem die russischen Armeen immer näher kamen und sogar eine Granate im eigenen Haus explodierte. Als mein Vater anfing, davon zu erzählen, wie sie sich verstecken mussten, wie sie eines Nachts zum Bahnhof geschickt wurden und wie so viele Menschenmassen sich dort schon versammelt hatten, platzte es aus mir heraus. Ich konnte meine Gefühle nicht unterdrücken, ich konnte nichts dagegen tun, dass ich Rotz und Wasser heulen musste. Es war ein Gefühl des Mitleids, der Verzweiflung, der Ohnmacht. Mehrmals kam es dazu, dass ich in Tränen ausbrach. Das Gespräch hat mir sehr gut getan. (..)

Am nächsten Tag bin ich mit einem ungewöhnlichen Gedanken aufgewacht. Mir kam es wirklich so vor, als wenn sich mir etwas erschlossen hätte, als wenn ich etwas gefunden hätte, nach dem ich bislang überhaupt noch nicht gesucht hatte.

Ich habe häufig gespürt, dass ich eine merkwürdige Ungewissheit in mir trug, mich gefragt habe, wo ich herkomme, auf welchen Ort ich mein Leben beziehen kann, wo meine Wurzeln sind und ich hatte auch manchmal das Gefühl, dass ich irgendwo hin zurück muss.„

All das konnte der Sohn bis dahin überhaupt nicht einordnen, er trug, wie er selbst sagt „eine merkwürdige Ungewißheit„ in Bezug auf seine eigene Identität mit sich herum. Der Sohn erlebte in diesem Fall das brüchige Identitätsgefühl des Vaters als wäre es sein eigenes. Er hat unbewußt dessen Last getragen, die ganze lange Geschichte von Verfolgung, Verstecken, Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit. Hier wird besonders deutlich, wie eng verknüpft Schamgefühle mit unserem Identitätsgefühl sind, erläutert Herbert Mück :

5. Zusp. Mück

Es war dann wohl auch so, dass der Vater damals hätte wohl in dem Ort bleiben können, wenn er einen anderen Namen angenommen hätte, - das ist auch ein Identitätsthema - die sind dann aber geflohen und hier in einem Ort gelandet, wo sie sich nicht wohlgefühlt haben und er sich geschämt hat für sein „So- sein„ Und man kann sich vorstellen, dass die  Kinder das erlebt haben und teilweise verinnerlicht  haben.

Schambetroffene erleben ja oft dass mit ihnen was nicht in Ordnung ist, dass sie was falsch machen. Und da zu erleben, dass sie nicht verantwortlich sind, das ist eine enorme Entlastung und das lädt auch ein sich in die Vorbetroffenen - also hier in den Vater -  hineinzuversetzen, Mitgefühl zu entwickeln und  das irgendwie auch besser auf sich selbst zu übertragen. Man geht dann mit sich selbst liebevoller um. Also für den Patienten war das sehr hilfreich, sich mit der Geschichte des Vater auseinandersetzen und ich weiß wie er in der Tagebuchaufzeichnung beschreibt, dass er da tief bewegt war bis zu Tränen - ein gestandener Mann - also da ist was passiert.„ 

Dass das passiert ist, beurteilt der Therapeut sehr positiv. Denn eingefahrene Gefühlsmuster und Verhaltensweisen sind in der Regel nicht allein dadurch zu verändern, dass man darüber nachdenkt. Einsicht allein reicht nicht. Verändern lassen sich solche Muster durch starke Emotionen, wie sie Michael in der Therapie erlebt hat. Zum anderen braucht es neue Erfahrungen, um die eingefahrenen Gleise zu verlassen. 

Zitat

Die Methode, die Dr. Mück vorschlug war, gezielte Verhaltensübungen zu machen. Die Dinge, die er vorschlug, waren für mich zunächst fast nicht vorstellbar. Ich sollte meinem Kollegen beim nächsten Mal, wenn ich ihm angespannt gegenüber sitze, einfach sagen, dass ich mich angespannt fühle. Auch meinem besten Freund sollte ich mich öffnen. Also für mich bedeutete das schon ein coming out. (...)  Ich habe mich meinem Kollegen und meinem Freund anvertraut, habe ihnen viel über meine Probleme erzählt. Die Reaktionen waren absolut positiv. Mein Kollege hatte sogar Tränen in den Augen und bot mir jederzeit seine Hilfe an. Seitdem ist unser Verhältnis noch viel enger und freundschaftlicher geworden. Es zeigte sich zwar, dass mein bester Freund nicht die richtige Antenne hatte, was das für mich bedeutet, aber auch er zeigte Verständnis und auf keinen Fall Ablehnung.„

Es war ein riesiger Schritt für Michael sich dermaßen zu outen. Und eine wichtige Erfahrung zu erleben, dass trotzdem nichts Schreckliches passiert ist. Im Gegenteil. Er hat viel Zuwendung und Unterstützung erlebt. Wer ständig denkt: „Hoffentlich merkt niemand, dass ich erröte, dass ich zittere, dass ich eigentlich ein Nichts bin„ , wer sein Schamgefühl ständig unterdrückt, der gibt den Schamgefühlen immer mehr Macht.

Wer dagegen das Versteckspiel aufgibt und es wagt, Ängste und Unsicherheiten auch mal zuzugeben, der verlässt die sich aufschaukelnde Spirale aus Befürchtungen, vermehrter Selbstbeobachtung und gesteigerten Schamgefühlen. Das kann jeder bestätigen, der schon mal unter der Angst gelitten hat, rot zu werden.

Herbert Mück hat ein Anti- Scham- Training entwickelt, das ziemlich provokativ ist. Dazu gehören etwa folgende Übungen:

Sich ein Glas Wasser über die Hose oder den Rock schütten und durch die Stadt spazieren. Unrasiert und ungekämmt zur Arbeit gehen. Jemanden auf der Straße fragen, wie der Bundesinnenminister heißt.

Das Auto vor der grünen Ampel abwürgen. Bei Regen einen Fremden fragen, ob man unter seinen Regenschirm darf. In einem Geschäft um den Preis handeln. Einen Unbekannten zu einem Kaffee einladen.

Je peinlicher die Situation und je höher die Hemmschwelle ist, desto besser. Denn wer so eine Situation gemeistert hat, muss sich nicht mehr schämen, nur weil bei einem Gespräch die Hände ein bisschen schwitzen, oder man vielleicht nach einem Wort suchen muss. Gerhard Mück gibt seinen Patienten als Hausaufgabe auf, jeden Tag mindestens eine solche Übung zu machen.

6. Zusp. Mück

Im Prinzip geht es darum die Patienten zu etwas ermutigen, das ihnen zeigt, dass die Welt doch völlig anders ist, als sie es Jahre oder Jahrzehnte geglaubt haben. Das kann eine sensationelle Erfahrung sein aber wichtig ist, dass sie oft gemacht wird, sonst heißt es schnell, ach das war nur Zufall oder so. Das Ganze läßt sich abstufen von kleinen Geschichten, also daß man Leute konsequent nach der Uhrzeit fragt oder - schon etwas schwieriger - sich unter ein Straßenschild stellt und fragt wie denn die Straße hier heißt und dann - noch schwieriger -  in der Straßenbahn laut singt oder was mal eine ältere Dame gemacht hat, die laut in einem Geschäft rief „wo stehen hier die Kondome?„ Dann zu sehen dass nichts passiert, vielleicht sogar eher Humor oder Hilfe ausgelöst wird, das ist eine Möglichkeit, ein neues Muster im Gehirn zu bahnen.„ 

Außerdem wird damit ein Gegenspieler der Scham auf den Plan gerufen: Es ist Stolz. Sobald wir stolz sind, können wir uns nicht mehr schämen. Ähnliches gilt für Neugier, sexuelle und aggressive Lust, Wut, Fröhlichkeit, Aktivitäts- und Sinnesfreude - die der Psychologe Wolfgang Rost als Scham- Antagonisten bezeichnet. Denn sich vorzunehmen, sich NICHT zu schämen, funktioniert nicht und fördert nur die Konzentration auf die Scham. Sich dagegen auf etwas anderes zu konzentrieren, sich auf etwas zu freuen, sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben und darin aufzugehen, sei es beruflich oder privat – das stärkt das Selbstwertgefühl.

Zitat

„Ein Gedanke, der mir in der letzten Zeit bei passenden Gelegenheiten häufig kam, war ein Kommentar, den Dr. Mück mir einmal in mein Tagebuch geschrieben hatte. „Was man beobachtet, das wächst„. Viele Dinge haben mir in der Vergangenheit Schwierigkeiten bereitet, weil ich ein besonderes Augenmerk auf sie gelegt habe. Je mehr ich mich darüber geärgert habe, desto unangenehmer wurden sie. Es ist mir jetzt häufig gelungen, die Befürchtungen einfach zu ignorieren und den Gedanken nicht aufkeimen zu lassen, was häufig funktioniert hat. ....Ich habe Dr. Mück auch von meinen Fortschritten berichtet. So war ein wichtiges Therapieziel von mir, dass ich mich bei Treffen mit Familie und Freunden wieder wohl fühlen kann, dass mir die Begegnungen Spaß machen. Zuletzt habe ich mich bei solchen Anlässen meistens mit mir und meinen Gefühlen beschäftigt, war oft gar nicht richtig da und habe mich so unwohl gefühlt, dass ich am liebsten schon bald wieder gefahren wäre. Ich habe jetzt einige solcher Treffen erlebt, die ich richtig genießen konnte und von denen ich mit einem sehr guten Gefühl nach Hause gefahren bin.„

Dreizehn Sitzungen hat Michael jetzt hinter sich. Zu Anfang der Therapie hat er zusammen mit Herbert Mück einige Ziele formuliert und aufgeschrieben. Das ist wichtig, um überprüfen zu können, was man bereits erreicht hat. Sonst besteht die Gefahr, wieder nur auf das zu schauen, was noch nicht so gut läuft. Das tun Menschen mit übermäßiger Scham ohnehin.

Michael fühlt sich inzwischen vielen seiner Ziele nahe, selbst wenn nach wie vor nicht alles glatt läuft: Es gibt Tage an denen es ihm nicht besonders gut geht, Situationen, in denen er sich unwohl fühlt. Das ist auch ganz normal.

Aus Michaels Aufzeichnungen läßt sich jedoch ablesen, dass sein Selbstwertgefühl gewachsen ist und er damit seinen Schamgefühlen nicht mehr hilflos ausgeliefert ist. Wo er früher in einem engen Korsett aus Ängsten, Unsicherheit und Schamgefühlen steckte, hat er heute wesentlich mehr Gestaltungsraum für sein Leben gewonnen.

Jeder Mensch möchte auf der einen Seite etwas besonderes sein und unverwechselbar und auf der anderen Seite nicht zu sehr auffallen und aus seiner Umgebung herausfallen. Menschen mit übertriebenem Schamgefühl bleiben in diesem Spannungsfeld gefangen. Vor lauter Angst ausgegrenzt zu werden, trauen sie sich gar nicht erst zu zeigen, wer sie sind und was in ihnen steckt. Es geht ja nicht darum, um jeden Preis aufzufallen und anders als andere zu sein, sondern um die Freiheit zu wählen: Möchte ich in einer bestimmten Situation lieber mit dem Strom schwimmen und mich so wie alle anderen verhalten oder möchte ich mein eigenes Ding machen? Auch wenn es anderen verrückt vorkommt!

Gerhard Mück schenkt seinen Patienten irgendwann im Lauf der Therapie eine knallgelbe Urkunde:

Zitator:                „Lizenz zum Verrücktsein„

steht darauf und dass sich der Inhaber dazu verpflichtet, die Lizenz mindestens einmal am Tag  zu seinem eigenen Wohl einzusetzen und dabei mit seiner Umwelt respektvoll umzugehen. Michael tut immer noch keine verrückte Dinge und er schreibt auch, dass das Anti- Schamtraining bei ihm recht schnell eingeschlafen ist. Doch er traut sich inzwischen, vieles einfach so zu machen, wie er es für richtig hält. Ohne sich dabei mit quälenden Gedanken selbst zu zermürben, was wohl die anderen davon halten. Und immer häufiger macht ihm das sogar Spaß. So wie die Feste in der Verwandtschaft. Das ist ein riesiger Schritt. Ein gutes Zeichen ist auch, dass er sich selbst entschieden hat, die Therapie demnächst zu beenden:

ZITAT

Ich habe mich entschlossen, die Therapie nach der 15. Sitzung zu beenden. Auf der einen Seite finde ich es schade, weil ich quasi jetzt erst so richtig warm werde, auf der anderen Seite merke ich aber, dass ich mein Handwerkszeug von Dr. Mück erhalten habe. Ich kann es jetzt allein

benutzen und mit dem „kleinen Therapeuten„ in mir weiter arbeiten. ....

Ich frage mich in letzter Zeit häufig, was ich früher für ein Mensch war. Früher, bevor ich das erste Mal mit den Ängsten und Depressionen in Berührung gekommen bin. Ich hatte in der letzten Woche ein Erlebnis, bei

dem ich mich ein bisschen an diese Zeit erinnern konnte. (...) Als ich zufällig am Spiegel vorbeikam, blieb ich stehen. Ich sah mich aber nicht wie immer, musternd, überprüfend, ich sah mich mehr als Persönlichkeit. Ich sah mein Äußeres und gleichzeitig mein individuelles Inneres, meine Einzigartigkeit. Und ich sah, dass diese wunderbaren Eigenschaften ganz tief hinter angesammelten unrealistischen Einstellungen und eingebrannten Erfahrungen verschwunden waren. Ich sah auf meinen Lebensweg vom Kind zu dem Erwachsenen, der ich heute bin, und auch den Einfluss meiner Eltern und meiner Umwelt und ich sah, dass vieles, auf das ich selbst keinen Einfluss hatte, mein Leben und auch meine Schwierigkeiten mit meinem Leben geprägt haben. Ich erkannte, dass es hinter all den Problemen, die mir so sehr zu schaffen machen, einen vollwertigen Menschen gibt.„

Buchtipps:

Bradshaw, John: Familiengeheimnisse. Warum es sich lohnt, ihnen auf die Spur zu kommen. Kösel 1995.

Carducci, Bernado: Erfolgreich schüchtern. Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Krüger 1999.

Chu, Victor/de las Heras Brigitta: Scham und Leidenschaft. Kreuz 1994.

Hilgers, Micha: Scham. Gesichter eines Affektes. Vandenhoek & Ruprecht 1996.

Jacoby, Mario: Scham-Angst und Selbstwertgefühl. Ihre Bedeutung in der Psychotherapie. Walter 1993.
Schott, Barbara/Birker, Klaus: Schüchternheit überwinden. rororo

Tisseron, Serge: Phänomen Scham. Reinhardt 2000.
Wurmser, Leon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer-Verlag 1993.