ZITAT
„ Ich versuche mit aller
Kraft, meine „Schwächen„ vor meiner Umwelt zu verbergen. Ich denke jetzt
oft in den entscheidenden Situationen, vor allem im Kontakt mit anderen
Menschen, daran, was passieren würde, wenn ich mich so zeige, wie ich bin.
....Warum denke ich so beharrlich, dass sich meine Mitmenschen sich über
mich lustig machen oder sich sogar von mir abwenden könnten oder mir etwas
anderes schlimmes passieren könnte? Und selbst wenn, was wäre so
schlimm daran?"
Ein
Ausschnitt aus dem Therapie- Tagebuch eines 45- jährigen Mannes. Das
Besondere an diesem Tagebuch ist, dass es fortlaufend im Internet
veröffentlicht wird. Bei dem „Live- Therapie- Tagebuch„ handelt sich um
ein Experiment von Dr. Herbert Mück. Der Facharzt für Psycho-therapeutische
Medizin hat eine Praxis in Köln.
1. Zusp. Mück
„Also die Idee ist spontan im Kontakt mit
dem Patienten entstanden, als ich merkte, dass es um das Thema Scham ging
und dass es auch ein kluger Patient ist, der sich gut ausdrücken kann und
sehr offen und bereit ist - er hat ja auch schon Erfahrung mit Therapie -
neue Wege zu gehen. Ein wichtiger Aspekt der übermäßigen Scham - ein
gewisses Maß an Scham sollten wir natürlich alle haben - ist ja das
Problem, sich zu zeigen. Und dies ist nun eine Form, sich der Welt im
Internet zu zeigen. Zwar in anonymisierter Form - das ist auch wichtig,
denn der Mann steht voll im Leben - ja so ist das passiert, er war auch
direkt einverstanden und das war auch sehr schön weil wir von der ersten
Sitzung an unsere Gesprächsserie dokumentieren konnten.„
Der Patient - nennen wir ihn Michael, denn er will auch in
dieser Sendung anonym bleiben - kam das erstemal vor knapp einem Jahr aus
Norddeutschland zu Herbert Mück in die Praxis. Rein äußerlich gesehen
hatte er nichts zu klagen: Er lebte in einer liebevollen und gut
funktionierenden Beziehung und war beruflich sehr erfolgreich. Doch er
litt immer wieder an unerklärlichen Angstgefühlen und Depressionen. Auch
eine erste Therapie hatte ihm da nicht wirklich geholfen. Nach der ersten
Sitzung mit Dr. Mück schreibt Michael:
ZITAT
Mir war
natürlich klar, dass ich mich in meinem Leben in vielen Situationen unwohl
gefühlt habe, weil ich meine schlechten Gefühle verbergen wollte und weil
ich mich vor anderen nicht blamieren wollte. Das betraf mein Handeln, bei
dem zum Beispiel meine Hände zittern konnten, mein Reden, bei dem ich zum
Beispiel befürchtete, einen Blackout zu bekommen und auch ganz besonders
meine Körperhaltung
und meine Ausstrahlung. Ich wollte einfach nicht
schwach wirken, es sollte keiner sehen, wie angespannt ich war. Durch das
Gespräch wurde mir zum ersten Mal so richtig klar, dass ich ein viel zu
übertriebenes Schamgefühl habe. Das Sinnlose dabei ist, dass ich mich
dabei völlig verzerrt wahrnehme und auch die Wertungen von anderen völlig
falsch einschätze und bewerte. Meine Überzeugung war, dass andere mich
abwertend betrachten, wenn ich klein und schwach wirke und vor allem wenn
sie wüssten, dass ich Ängste habe und depressiv bin. (...)
2. Zusp. Mück
Er hat von Anfang an Situationen
beschrieben, in denen er sich unwohl fühlt. Das waren oft Situationen mit
anderen Menschen zusammen, wo er unruhig wurde, anfing zu zittern, sich
beobachtet fühlte, und eine Spirale in Gang setzte, die die Situation
immer unerträglicher machte und der er sich dann teilweise auch entzogen
hat. Und wenn man so was hört, sollte die Glocke klingeln, ob hier
übermäßige Scham vielleicht eine Rolle spielt. Das war in der ersten
Sitzung so, das das zur Sprache kam und ich ihm das als Thema angeboten
habe, und so prüft man ja als auch Therapeut, ob man so etwas zum
Schwingen bringt und das war schnell der Fall und dann sind wir auf dieser
Ebene besonders schnell eingestiegen. Auch wenn das jetzt keine reine
Schamtherapie ist, die wir betreiben.„
Scham gehört
zu den mächtigen Gefühlen, die menschliches Verhalten steuern. An sich ist
sie ein wichtiges Gefühl: In Maßen fördert sie die Fähigkeit, sich in
andere hinein zu versetzen und Mitgefühl zu entwickeln. Scham schärft den
Sinn dafür, was in einer bestimmten Umgebung oder Gesellschaft angebracht
ist und was unangemessen wäre. Sie ist eine Reaktion auf Kritik von
anderen und geht mit der Angst Hand in Hand, von ihnen verachtet zu werden.
Der französische Psychoanalytiker Serge Tisseron schreibt in seinem Buch
„Phänomen Scham„:
ZITAT
„Der
gemeinsame Nenner aller Formen der Scham ist die Angst ausgeschlossen zu
werden, also kein bloßer Liebesentzug sondern der Verlust jeder Form von
Interesse.„
Ähnlich äußert sich auch der Soziologe und Historiker Norbert Elias über
die Scham:
ZITAT
„Es ist -
oberflächlich betrachtet- eine Angst vor der sozialen Degradierung, oder
allgemeiner gesagt, vor den Überlegenheitsgesten Anderer...„
So
ist es auch nicht verwunderlich, dass Menschen in Kulturen, bei denen das
Kollektiv im Vordergrund steht, mit mehr Schamgefühlen auf die
Verletzung von gesetzlichen und religiösen Normen reagieren als Menschen
aus individualistischen Kulturen wie der unseren. Das zeigt eine
Untersuchung, für die Deutsche, Kurden und Libanesen befragt wurden.
Scham stört
die „fraglose Selbstverständlichkeit des Selbstgefühls„ - so der
Psychoanalytiker Micha Hilgers. Sie schärft unser Bewußtsein für
uns als Person und dafür, wie uns andere erleben. Scham hat auch etwas mit
Erkenntnis zu tun: Die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem
Paradies beschreibt dies symbolisch: Adam und Eva fühlten sich im Paradies
eins mit der Welt. Erst als sie verbotenerweise einen Apfel vom "Baum der
Erkenntnis" aßen, wurden sie sich ihrer Nacktheit bewusst. Sie schämten
sich, bastelten sich einen Lendenschurz und versteckten sich vor Gott, der
sie schließlich aus dem Paradies vertrieb.
Zu einem
Problem wird Scham dann, wenn es an ihr mangelt oder wenn sie im Übermaß
vorhanden ist. Schamloses Verhalten strapaziert die Umwelt, ist unangenehm
und antisozial. Wer sich hingegen zu sehr schämt, ist außerstande,
Unterschiede zu ertragen. Ihm fehlt es an Stolz auf seine Eigenarten und
seine unverwechselbare Identität.
Scham hat
tatsächlich etwas sehr verschämtes. Wer sich schämt, ist unsicher, möchte
am liebsten im Boden versinken. Deshalb kommt die Scham in der Regel auch
in Therapien nicht gleich zur Sprache. Doch sie ist häufig hinter
bestimmten Äußerungen oder Verhaltensweisen zu erkennen.
3. Zusp.
Sehr oft sind das Menschen, die sich die
Frage stellen, was die anderen wohl über mich denken, die fürchten was
andere denken, dann reden Menschen mit Scham häufig mit dem Wort „man„,
was man tut, man tun sollte usw. es sind Menschen, die zu
Selbstabwertungen und zur Abwertung anderer neigen, Leute die schlecht
nein sagen können, die schwer konkurrieren könne, die sich anpassen, die
sich nicht richtig freuen oder stolz sein können, die - das klang jetzt
bei dem Patienten auch schon an- etwas kontaktscheu wirken, sich
minderwertig fühlen und - das ist jetzt etwas abstrakt schon - die
Identitätsprobleme haben, nicht so genau wissen, wer sie eigentlich sind.
Sie sehen also, das ist schon eine riesige Menge, all das sind immer nur
Anzeichen, kein Beweis - und im Gespräch mit den Patienten kann man dann
herausfinden, ob das eine heiße Spur sein kann.„
Herbert Mück
erlebt auch immer wieder, dass sich die Scham hinter bestimmten
psychischen Störungen „versteckt„ :
4. Zusp.
Es
gibt auch Diagnosen, hinter denen sich als Schwerpunkt die Scham
versteckt. Ein Beispiel wären Esstörungen, oder auch hinter Depressionen
und Ängsten kann sich besonders oft Scham verstecken. Hinter der
sogenannten narzistischen Persönlichkeit - also bei Menschen, die Probleme
mit ihrem Selbstwert haben - da ist es hilfreich wenn man sozusagen an der
Basis arbeitet mit diesem Gefühl.„
In der Frage,
in welchem Alter Scham im Leben eines Menschen erstmals auftritt, besteht
keine Einigkeit. Manche Wissenschaftler deuten sogar schon bei Babies das
Abwenden des Kopfes als Scham. Auch das „Fremdeln„ im Alter von etwa acht
Monaten wird von manchen als eine ganz frühe Form der sozialen Scham
gedeutet.
Sicher kann
man davon ausgehen, dass Kinder im Alter von ein bis zwei Jahren in der
Lage sind, Scham zu empfinden: In der Zeit lernen sie, sich von ihren
Müttern weg zu bewegen, sie können sich in einem Spiegel selbst erkennen,
sie reagieren sichtbar mit Stolz, wenn sie etwas geschafft haben, und sie
entwickeln Hemmungen und Scham, wenn ihre Freude nicht angemessen
beantwortet wird. Da zeigt etwa ein Kind seiner Mutter voller Stolz ein
selbstgemaltes Bild. Doch statt Freude zu ernten, wird es ausgelacht und
verspottet. Sich an solche Situatuionen überhaupt zu erinnern fällt den
meisten Menschen sehr schwer. Denn es ist mit Gefühlen von Demütigung,
Peinlichkeit und großer Hilflosigkeit verbunden. Herbert Mück stößt in
Therapien auch häufig auf Familien-geschichten, in denen die Scham
sozusagen „von einer Generation zur nächsten weitergegeben„ wird. Das war
auch ein ganz wichtiger Schlüssel bei Michael, der seine Erfahrungen im
Therapie- Tagebuch festgehalten hat.
ZITAT
Wir kamen in der Therapiestunde auf meine
Kindheit zu sprechen. (...)
Meine Aufgabe für die Zeit zwischen den
Sitzungen war deshalb, mich intensiv mit meinen Eltern über meine ersten
Lebensjahre, über ihr eigenes Leben und auch über das Leben meiner
Großeltern zu unterhalten. Bei dem Gespräch mit meiner Eltern wusste ich
zuerst gar nicht, wie ich die Sache angehen soll, was ich fragen soll oder
was wichtig für mich sein könnte. Ich war mir aber ziemlich sicher, dass
die Vergangenheit von meinem Vater für mich interessant sein könnte, weil
ich glaube, dass wir uns teilweise sehr ähnlich sind, dass vor allem unser
Schamgefühl sehr ausgeprägt ist. (...)
Besonders wichtig war für mich die Geschichte, als er
nach Kriegsende mit Mutter, Bruder und Schwester in einer Nacht und
Nebelaktion aus dem jetzigen Oberschlesien in den Westen flüchten musste,
nachdem die russischen Armeen immer näher kamen und sogar eine Granate im
eigenen Haus explodierte. Als mein Vater anfing, davon zu erzählen, wie
sie sich verstecken mussten, wie sie eines Nachts zum Bahnhof geschickt
wurden und wie so viele Menschenmassen sich dort schon versammelt hatten,
platzte es aus mir heraus. Ich konnte meine Gefühle nicht unterdrücken,
ich konnte nichts dagegen tun, dass ich Rotz und Wasser heulen musste. Es
war ein Gefühl des Mitleids, der Verzweiflung, der Ohnmacht. Mehrmals kam
es dazu, dass ich in Tränen ausbrach. Das Gespräch hat mir sehr gut getan.
(..)
Am nächsten Tag bin ich mit einem
ungewöhnlichen Gedanken aufgewacht. Mir kam es wirklich so vor, als wenn
sich mir etwas erschlossen hätte, als wenn ich etwas gefunden hätte, nach
dem ich bislang überhaupt noch nicht gesucht hatte.
Ich habe häufig gespürt, dass ich eine
merkwürdige Ungewissheit in mir trug, mich gefragt habe, wo ich herkomme,
auf welchen Ort ich mein Leben beziehen kann, wo meine Wurzeln sind und
ich hatte auch manchmal das Gefühl, dass ich irgendwo hin zurück muss.„
All
das konnte der Sohn bis dahin überhaupt nicht einordnen, er trug, wie er
selbst sagt „eine merkwürdige Ungewißheit„ in Bezug auf seine eigene
Identität mit sich herum. Der Sohn erlebte in diesem Fall das brüchige
Identitätsgefühl des Vaters als wäre es sein eigenes. Er hat unbewußt
dessen Last getragen, die ganze lange Geschichte von Verfolgung,
Verstecken, Vertreibung, Flucht und Heimatlosigkeit. Hier wird besonders
deutlich, wie eng verknüpft Schamgefühle mit unserem Identitätsgefühl sind,
erläutert Herbert Mück :
5. Zusp.
Mück
Es war dann wohl auch so, dass der Vater
damals hätte wohl in dem Ort bleiben können, wenn er einen anderen Namen
angenommen hätte, - das ist auch ein Identitätsthema - die sind dann aber
geflohen und hier in einem Ort gelandet, wo sie sich nicht wohlgefühlt
haben und er sich geschämt hat für sein „So- sein„ Und man kann sich
vorstellen, dass die Kinder das erlebt haben und teilweise verinnerlicht
haben.
Schambetroffene erleben ja oft dass mit
ihnen was nicht in Ordnung ist, dass sie was falsch machen. Und da zu
erleben, dass sie nicht verantwortlich sind, das ist eine enorme
Entlastung und das lädt auch ein sich in die Vorbetroffenen - also hier in
den Vater - hineinzuversetzen, Mitgefühl zu entwickeln und das irgendwie
auch besser auf sich selbst zu übertragen. Man geht dann mit sich selbst
liebevoller um. Also für den Patienten war das sehr hilfreich, sich mit
der Geschichte des Vater auseinandersetzen und ich weiß wie er in der
Tagebuchaufzeichnung beschreibt, dass er da tief bewegt war bis zu Tränen
- ein gestandener Mann - also da ist was passiert.„
Dass das
passiert ist, beurteilt der Therapeut sehr positiv. Denn eingefahrene
Gefühlsmuster und Verhaltensweisen sind in der Regel nicht allein dadurch
zu verändern, dass man darüber nachdenkt. Einsicht allein reicht nicht.
Verändern lassen sich solche Muster durch starke Emotionen, wie sie
Michael in der Therapie erlebt hat. Zum anderen braucht es neue
Erfahrungen, um die eingefahrenen Gleise zu verlassen.
Zitat
Die Methode, die Dr. Mück vorschlug war, gezielte
Verhaltensübungen zu machen. Die Dinge, die er vorschlug, waren für mich
zunächst fast nicht vorstellbar. Ich sollte meinem Kollegen beim nächsten
Mal, wenn ich ihm angespannt gegenüber sitze, einfach sagen, dass ich mich
angespannt fühle. Auch meinem besten Freund sollte ich mich öffnen. Also
für mich bedeutete das schon ein coming out. (...) Ich habe mich meinem
Kollegen und meinem Freund anvertraut, habe ihnen viel über meine Probleme
erzählt. Die Reaktionen waren absolut positiv. Mein Kollege hatte sogar
Tränen in den Augen und bot mir jederzeit seine Hilfe an. Seitdem ist
unser Verhältnis noch viel enger und freundschaftlicher geworden. Es
zeigte sich zwar, dass mein bester Freund nicht die richtige Antenne hatte,
was das für mich bedeutet, aber auch er zeigte Verständnis und auf keinen
Fall Ablehnung.„
Es war ein
riesiger Schritt für Michael sich dermaßen zu outen. Und eine wichtige
Erfahrung zu erleben, dass trotzdem nichts Schreckliches passiert ist. Im
Gegenteil. Er hat viel Zuwendung und Unterstützung erlebt. Wer ständig
denkt: „Hoffentlich merkt niemand, dass ich erröte, dass ich zittere, dass
ich eigentlich ein Nichts bin„ , wer sein Schamgefühl ständig unterdrückt,
der gibt den Schamgefühlen immer mehr Macht.
Wer dagegen
das Versteckspiel aufgibt und es wagt, Ängste und Unsicherheiten auch mal
zuzugeben, der verlässt die sich aufschaukelnde Spirale aus Befürchtungen,
vermehrter Selbstbeobachtung und gesteigerten Schamgefühlen. Das kann
jeder bestätigen, der schon mal unter der Angst gelitten hat, rot zu
werden.
Herbert Mück
hat ein Anti- Scham- Training entwickelt, das ziemlich provokativ ist.
Dazu gehören etwa folgende Übungen:
Sich ein Glas
Wasser über die Hose oder den Rock schütten und durch die Stadt spazieren.
Unrasiert und ungekämmt zur Arbeit gehen. Jemanden auf der Straße fragen,
wie der Bundesinnenminister heißt.
Das Auto vor
der grünen Ampel abwürgen. Bei Regen einen Fremden fragen, ob man unter
seinen Regenschirm darf. In einem Geschäft um den Preis handeln. Einen
Unbekannten zu einem Kaffee einladen.
Je peinlicher
die Situation und je höher die Hemmschwelle ist, desto besser. Denn wer so
eine Situation gemeistert hat, muss sich nicht mehr schämen, nur weil bei
einem Gespräch die Hände ein bisschen schwitzen, oder man vielleicht nach
einem Wort suchen muss. Gerhard Mück gibt seinen Patienten als Hausaufgabe
auf, jeden Tag mindestens eine solche Übung zu machen.
6. Zusp. Mück
Im Prinzip geht es
darum die Patienten zu etwas ermutigen, das ihnen zeigt, dass die Welt
doch völlig anders ist, als sie es Jahre oder Jahrzehnte geglaubt
haben. Das kann eine sensationelle Erfahrung sein aber wichtig ist,
dass sie oft gemacht wird, sonst heißt es schnell, ach das war nur
Zufall oder so. Das Ganze läßt sich abstufen von kleinen Geschichten,
also daß man Leute konsequent nach der Uhrzeit fragt oder - schon
etwas schwieriger - sich unter ein Straßenschild stellt und fragt wie
denn die Straße hier heißt und dann - noch schwieriger - in der
Straßenbahn laut singt oder was mal eine ältere Dame gemacht hat, die
laut in einem Geschäft rief „wo stehen hier die Kondome?„ Dann zu
sehen dass nichts passiert, vielleicht sogar eher Humor oder Hilfe
ausgelöst wird, das ist eine Möglichkeit, ein neues Muster im Gehirn
zu bahnen.„
Außerdem wird damit ein
Gegenspieler der Scham auf den Plan gerufen: Es ist Stolz. Sobald wir
stolz sind, können wir uns nicht mehr schämen. Ähnliches gilt für
Neugier, sexuelle und aggressive Lust, Wut, Fröhlichkeit, Aktivitäts-
und Sinnesfreude - die der Psychologe Wolfgang Rost als Scham-
Antagonisten bezeichnet. Denn sich vorzunehmen, sich NICHT zu schämen,
funktioniert nicht und fördert nur die Konzentration auf die Scham.
Sich dagegen auf etwas anderes zu konzentrieren, sich auf etwas zu
freuen, sich ganz einer Tätigkeit hinzugeben und darin aufzugehen, sei
es beruflich oder privat – das stärkt das Selbstwertgefühl.
|
Zitat
„Ein
Gedanke, der mir in der letzten Zeit bei passenden Gelegenheiten häufig
kam, war ein Kommentar, den Dr. Mück mir einmal in mein Tagebuch
geschrieben hatte. „Was man beobachtet, das wächst„. Viele Dinge haben mir
in der Vergangenheit Schwierigkeiten bereitet, weil ich ein besonderes
Augenmerk auf sie gelegt habe. Je mehr ich mich darüber geärgert habe,
desto unangenehmer wurden sie. Es ist mir jetzt häufig gelungen, die
Befürchtungen einfach zu ignorieren und den Gedanken nicht aufkeimen zu
lassen, was häufig funktioniert hat. ....Ich habe Dr. Mück auch von meinen
Fortschritten berichtet. So war ein wichtiges
Therapieziel von mir, dass ich mich bei Treffen
mit Familie und Freunden wieder wohl fühlen kann, dass mir die Begegnungen
Spaß machen. Zuletzt habe ich mich bei solchen Anlässen meistens mit mir
und meinen Gefühlen beschäftigt, war oft gar nicht richtig da und habe
mich so unwohl gefühlt, dass ich am liebsten schon bald wieder gefahren
wäre. Ich habe jetzt einige solcher Treffen erlebt, die ich richtig
genießen konnte und von denen ich mit einem sehr guten Gefühl nach Hause
gefahren bin.„
Dreizehn Sitzungen hat Michael jetzt hinter sich. Zu Anfang der Therapie
hat er zusammen mit Herbert Mück einige Ziele formuliert und
aufgeschrieben. Das ist wichtig, um überprüfen zu können, was man bereits
erreicht hat. Sonst besteht die Gefahr, wieder nur auf das zu schauen, was
noch nicht so gut läuft. Das tun Menschen mit übermäßiger Scham ohnehin.
Michael fühlt
sich inzwischen vielen seiner Ziele nahe, selbst wenn nach wie vor nicht
alles glatt läuft: Es gibt Tage an denen es ihm nicht besonders gut geht,
Situationen, in denen er sich unwohl fühlt. Das ist auch ganz normal.
Aus Michaels
Aufzeichnungen läßt sich jedoch ablesen, dass sein Selbstwertgefühl
gewachsen ist und er damit seinen Schamgefühlen nicht mehr hilflos
ausgeliefert ist. Wo er früher in einem engen Korsett aus Ängsten,
Unsicherheit und Schamgefühlen steckte, hat er heute wesentlich mehr
Gestaltungsraum für sein Leben gewonnen.
Jeder Mensch
möchte auf der einen Seite etwas besonderes sein und unverwechselbar und
auf der anderen Seite nicht zu sehr auffallen und aus seiner Umgebung
herausfallen. Menschen mit übertriebenem Schamgefühl bleiben in diesem
Spannungsfeld gefangen. Vor lauter Angst ausgegrenzt zu werden, trauen sie
sich gar nicht erst zu zeigen, wer sie sind und was in ihnen steckt. Es
geht ja nicht darum, um jeden Preis aufzufallen und anders als andere zu
sein, sondern um die Freiheit zu wählen: Möchte ich in einer bestimmten
Situation lieber mit dem Strom schwimmen und mich so wie alle anderen
verhalten oder möchte ich mein eigenes Ding machen? Auch wenn es anderen
verrückt vorkommt!
Gerhard Mück
schenkt seinen Patienten irgendwann im Lauf der Therapie eine knallgelbe
Urkunde:
Zitator:
„Lizenz zum Verrücktsein„
steht darauf
und dass sich der Inhaber dazu verpflichtet, die Lizenz mindestens einmal
am Tag zu seinem eigenen Wohl einzusetzen und dabei mit seiner Umwelt
respektvoll umzugehen. Michael tut immer noch keine verrückte Dinge
und er schreibt auch, dass das Anti- Schamtraining bei ihm recht schnell
eingeschlafen ist. Doch er traut sich inzwischen, vieles einfach so zu
machen, wie er es für richtig hält. Ohne sich dabei mit quälenden Gedanken
selbst zu zermürben, was wohl die anderen davon halten. Und immer häufiger
macht ihm das sogar Spaß. So wie die Feste in der Verwandtschaft. Das ist
ein riesiger Schritt. Ein gutes Zeichen ist auch, dass er sich selbst
entschieden hat, die Therapie demnächst zu beenden:
ZITAT
Ich habe mich entschlossen, die Therapie nach der 15. Sitzung zu beenden.
Auf der einen Seite finde ich es schade, weil ich quasi jetzt erst so
richtig warm werde, auf der anderen Seite merke ich aber,
dass ich mein Handwerkszeug von Dr. Mück erhalten habe.
Ich kann es jetzt allein
benutzen und
mit dem „kleinen Therapeuten„ in mir weiter arbeiten. ....
Ich frage
mich in letzter Zeit häufig, was ich früher für ein Mensch war. Früher,
bevor ich das erste Mal mit den Ängsten und Depressionen in Berührung
gekommen bin. Ich hatte in der letzten Woche ein Erlebnis, bei
dem ich mich
ein bisschen an diese Zeit erinnern konnte. (...) Als ich zufällig am
Spiegel vorbeikam, blieb ich stehen. Ich sah
mich aber nicht wie immer, musternd, überprüfend, ich sah mich mehr als
Persönlichkeit. Ich sah mein Äußeres und gleichzeitig mein individuelles
Inneres, meine Einzigartigkeit. Und ich sah, dass diese wunderbaren
Eigenschaften ganz tief hinter angesammelten unrealistischen Einstellungen
und
eingebrannten Erfahrungen verschwunden waren. Ich sah auf meinen
Lebensweg vom Kind zu dem Erwachsenen, der ich heute bin, und auch den
Einfluss meiner Eltern und meiner Umwelt und ich sah, dass vieles, auf das
ich selbst keinen Einfluss hatte, mein Leben und auch meine
Schwierigkeiten mit meinem Leben geprägt haben.
Ich erkannte, dass es hinter all den Problemen, die mir so
sehr zu schaffen machen, einen vollwertigen Menschen gibt.„
Buchtipps:
Bradshaw,
John:
Familiengeheimnisse. Warum es sich lohnt, ihnen auf die Spur zu kommen.
Kösel 1995.
Carducci,
Bernado:
Erfolgreich schüchtern. Der Weg zu einem neuen Selbstwertgefühl. Krüger
1999.
Chu,
Victor/de las Heras Brigitta:
Scham und
Leidenschaft. Kreuz 1994.
Hilgers,
Micha:
Scham. Gesichter eines Affektes. Vandenhoek & Ruprecht 1996.
Jacoby,
Mario:
Scham-Angst und Selbstwertgefühl. Ihre Bedeutung in der Psychotherapie.
Walter 1993.
Schott, Barbara/Birker, Klaus: Schüchternheit überwinden. rororo
Tisseron,
Serge:
Phänomen Scham. Reinhardt 2000.
Wurmser, Leon: Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von
Schamaffekten und Schamkonflikten. Springer-Verlag 1993.
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