Viel Unglück in dieser
Welt entsteht, weil sich Menschen missverstehen und dadurch ungünstig
aufeinander reagieren. Sehr oft geht es darum, dass ein und derselbe
Vorgang (Sachverhalt, Sache) unterschiedlich interpretiert (gedeutet)
wird. Dabei ist es viel weniger das Verhalten unserer Mitmenschen als
unser inneres „Interpretationsraster“, das uns glauben lässt, was in
dieser Welt bzw. bei unserem Gegenüber gerade abläuft. Folgende von mir
ausgedachte Geschichte veranschaulicht einen solchen Prozess.
Ein junger Mann geht
morgens auf der Arbeitsstelle über einen langen Flur. Er ist ein
fröhlicher und aufgeschlossener Mensch, dem es gelingt, anderen mit
einem sympathischen Lächeln zu begegnen. Auf dem Flur trifft er zuerst
Kollegin A, deren Schritte sich verlangsamen, während sich gleichzeitig
ihre Gesichtszüge verhärten und die Muskulatur verkrampft. Die Hände
ballen sich zu einer Faust und man merkt, dass es in ihr kocht. Der
junge Mann schafft es dennoch, sein freundliches Lächeln
aufrechtzuerhalten. Als sich beide gegenüberstehen, merkt man, dass
Kollegin A die Fassung verliert. Plötzlich kann Sie nicht mehr an sich
halten und schreit „Du, Schwein, unschuldige Frauen schon am frühen
Morgen mit dreckigem Grinsen anzumachen“. Gleichzeitig rutscht ihr die
Hand aus und sie schlägt dem jungen Mann ins Gesicht. Vierzehn Tage
später begegnen sich beide vor Gericht, weil Kollegin A, den jungen Mann
wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz angezeigt hat.
Glücklicherweise übersteht der junge Mann
diesen Zwischenfall seelisch unbelastet. Er schafft es, schon
Augenblicke später auf dem weiteren Weg entlang des Flurs erneut
sympathisch zu lächeln. Das ist gut so, denn am Ende des langen Ganges
begegnet ihm Kollegin B. Auch ihre Schritte verlangsamen sich, während
sie dem jungen Mann ins Gesicht blickt. Anders als bei Kollegin A
entspannen sich jedoch bei Kollegin B die Gesichtszüge. Außerdem beginnt
sie zu lächeln. Als sich beide gegenüberstehen, verliert auch Kollegin B
die Beherrschung und ruft „Nein, so etwas Schönes, schon am frühen
Morgen mit einem so freundlichen Lächeln begrüßt zu werden!“.
Gleichzeitig fällt sie dem jungen Mann um den Hals und gibt ihm einen
Kuss. Vierzehn Tage später findet im Anschluss an das erwähnte
Gerichtsverfahren eine Verlobungsfeier statt, auf der sich der junge
Mann und Kollegin B die Ehe versprechen.
Zugegeben, das Ganze klingt konstruiert,
dennoch dürfte es plausibel wirken. Das Beispiel will veranschaulichen,
dass wir auf viele Entwicklungen (leider) keinen so großen Einfluss
haben, insbesondere wenn diese von Meinungen
(„Bedeutungszuschreibungen“) anderer abhängen. Jeder nimmt nun einmal
die Welt durch seine eigene Brille wahr, meist ohne sich dieser Tatsache
bewusst zu sein.
Viel aufschlussreicher als die
Perspektive des jungen Mannes, der sich in beiden Fällen gleichbleibend
freundlich verhielt, ist die Perspektive der beiden Frauen: Ihre jeweils
unterschiedliche Deutung der Situation entschied letztlich darüber, ob
die weitere Entwicklung mit Kampf und Ärger oder mit Freude und Glück
verbunden war. Machen Sie sich daher laufend klar, wie Sie selbst durch
Ihre jeweilige Deutung einer Situation dazu beitragen, sich das Leben
leicht und schön oder schwer und unglücklich zu gestalten.
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