Was versteht man unter
„Klatsch und Tratsch“?
Eigene
Definition:
Klatsch und Tratsch bilden einen
hochpotenten Cocktail, bestehend aus je einem Schuss Sensationsgier,
Voyeurismus, Werte-Check, Realitätsvergewisserung, Selbstbestätigung,
Verbrüderung, Machtausübung sowie Abreaktion und Entgiftung. Dieser
Cocktail wirkt sowohl beim einzelnen wie auch im sozialen Verbund. Er ist
hochpotent, weil er insbesondere über das Ansehen“ anderer Menschen
entscheiden kann und die eigene und wie auch fremde Identitäten zu
definieren vermag. Im Extremfall kann er sogar zum „Rufmord“ führen.
Klatsch und Tratsch sind also eine Kommunikationsform mit vielen
Funktionen, die hilft, mit der Existenz „mächtigerer“, (scheinbar)
wichtigerer oder „besonderer“ (= auffälliger) Menschen klar zu kommen,
ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen.
Wörterbücher beschreiben
den Begriff „Klatsch“ mit „die Verbreitung von privaten
Neuigkeiten, Gerüchten, z. T. unwahres Gerede über jemanden, der nicht
anwesend ist, aber auch das Sprechen über private Ereignisse (oft in
gemütlicher Runde, z. B: beim Kaffeeklatsch). Tratsch wird
beschrieben als meist übles gehässiges Gerede über eine dritte Person
oder über private Neuigkeiten zur Befriedigung von Neugier. Von beidem
unterscheiden sich Geplauder, Smalltalk, Unterhaltung und andere
Gesprächsformen. Oft werden beide Begriffe zusammengefasst oder in einem
Atemzug genannt. Typisch ist eine gewisse Tendenz zur Übertreibung. Fast
immer sind Wertvorstellungen („was sich gehört“ bzw. Wwelche
Grenzüberschreitungen wieder einmal vorgenommen wurden“) im
Vordergrund. Manchmal werden die Begriffe eher dem weiblichen als
dem männlichen Geschlecht zugeordnet (Beispiel Kaffeeklatsch, der noch
immer keine männliche Domäne ist). Im Gegensatz zur eindeutigen
Verleumdung bewegen sich Klatsch und Tratsch auf der Grenze des sozial
Zulässigen, was sie zu einem subtilen und zugleich mächtigen
Instrument machen kann und auch eine gewisse kommunikative Kompetenz
erfordert. Klatsch und Tratsch haben sehr häufig etwas mit
„Geheimnissen“ bzw. Heimlichkeit zu tun, was einen eigenen Reiz
ausüben kann. Klatsch und Tratsch erwecken Aufmerksamkeit“. Alles
was sich zu beiden Begriffen sagen lässt, darf nicht verallgemeinert
werden! Hinter der Bedeutung beider Gesprächsformen verbergen sich
unzählige Möglichkeiten, die vom reinen Unterhalten der Zuhörer bis
zum gezielten Mobbing oder zum Rufmord reichen.
Welche Beispiele für
Klatsch und Tratsch gibt es?
- Nachbarin A erzählt Nachbarin B,
dass bei Nachbarin C jetzt schon der dritte Mann innerhalb einer Woche
aus und ein gegangen sei. Einmal nachts wäre auch laut geworden und sei
sogar die Polizei gekommen.
- Parteimitglied A erzählt
Parteimitglied B, dass er von einem weiteren Beispiel gehört habe, dass
zeige, wie korrupt und unzuverlässig Parteimitglied C ist.
- Bei einem Stehempfang tauschen sich
zwei Gäste über die unmögliche Kleidung und die ungebührliche
Ausdrucksweise der Schauspielerin A aus.
Seit wann gibt es Klatsch
und Tratsch?
Als Prinzip dürfte
es Klatsch und Tratsch schon so lange geben, wie Sprache in der dazu
nötigen Qualität existiert. Die jeweiligen Ausprägungsformen sind
jedoch kultur- und zeitabhängig (z. B. gibt es Kulturen, in denen die
Geschlechter weniger miteinander als untereinander kommunizieren). Auch in
unserer Kultur haben „technische Fortschritte“ auf die Klatschkultur
Einfluss genommen, wie die Erfindungen von Buchdruck, modernen
Transportmitteln, Telefon und Internet zeigen. So würde es ohne den
Buchdruck keine „Klatschpostillen“ geben. Mit der Erfindung des
Telefons und moderner Transportmittel hat sich die
persönliche Reichweite von Klatsch und Tratsch eindrucksvoll ausgeweitet.
Letzteres gilt insbesondere auch für das Internet, das zudem neue
Varianten von Klatsch und Tratsch ermöglicht (Chatrooms, Blogging, wo die
Teilnehmer beispielsweise weltweit und anonym Klatschen und Tratschen
können).
Ist Klatsch und Tratsch
nur etwas für Frauen?
Dass Tratsch und Klatsch
immer noch überwiegend als Domäne von Frauen gelten, dürfte damit
zusammenhängen, dass Kommunikation offenbar schon seit jeher
eine Stärke von Frauen ist. Dies erklärt man sich damit, dass Frauen
aus der Sicht der Menschheitsgeschichte allein schon weitaus mehr
Möglichkeiten hatten oder auch Notwendigkeiten ausgesetzt waren zu
kommunizieren (z. B. Kindererziehung). Dagegen waren Männer mehr mit Jagen
und Sammeln beschäftigt. Indem Frauen durch Klatsch und Tratsch über
das Ansehen von Männern mitentscheiden konnten, verhalf und verhilft
ihnen diese Kommunikationsform zu einer subtilen Macht gegenüber den
körperlich überlegenen Männern. Beispiel: Zwei Freundinnen unterhalten
sich darüber, wie gut ein gemeinsamer Bekannter angeblich im Bett ist. Das
Ergebnis des Gesprächs kann über den weiteren Umgang mit diesem Bekannten
entscheiden und ist möglicherweise auch diesem selbst nicht gleichgültig.
In dem Maße, in dem sich die Geschlechterrollen auflösen, werden Klatsch
und Tratsch auch für Männer attraktiver. Es gibt durchaus Lebensbereiche,
in denen Klatsch und Tratsch von beiden Geschlechtern gleichermaßen
betrieben werden („Büroklatsch“).
Was verleiht Klatsch und Tratsch mitunter einen besonderen „Kick“?
Die Macht des Tratsches
beruhigt insbesondere darauf, dass im Tratsch über das soziale Ansehen
einer abwesenden Person verhandelt wird. Das Ansehen eines einzelnen
ist früher vielleicht mehr als heute mitunter lebensentscheidend. Wenn
etwa im Mittelalter über eine Frau das Gerücht in die Welt gesetzt wurde,
sie verhalte sich wie eine Hexe, war dies nicht selten ihr Todesurteil.
Wenn im Büro über den Chef in Umlauf gesetzt wird, er schlafe mit jeder
Sekretärin, trinke heimlich Alkohol und brauche für seine Entscheidungen
immer den Rat seiner Ehefrau, kann dies ebenfalls dessen Karriere beenden.
Von ihrem durch Klatsch beeinflussbaren „Ansehen“ hängt nach wie vor
besonders das Schicksal von Politikern ab.
Welche weiteren Gesichtspunkte können den hohen Stellenwert von Klatsch
und Tratsch erklären?
- Klatsch und Tratsch ermöglichen
eine gewisse Teilhabe an den berichteten Geschichten und Erlebnissen,
die ja oft Grenzüberschreitungen sind. Da die Spiegelnervenzellen
unseres Gehirns nicht sicher unterscheiden, ob wir etwas selbst tun, es
nur beobachten oder nur davon hören, ist das innere Erleben oft ähnlich.
Tratschend kann man zumindest emotional am Handeln der von fern
beobachteten Person teilnehmen, während man sich gleichzeitig sichtlich
darüber brüskiert und damit auf der sicheren Seite wähnt. Von diesem
Mechanismus der „Teilhabe“ bzw. der Möglichkeit, sich mit „Prominenten“
im Rahmen von „Klatsch“ zu identifizieren, dürfte vor allem die
Boulevardpresse profitieren.
- Soziale Informationen
haben für uns einen höheren Stellenwert als Sachinformationen.
- Als Menschen interessieren wir uns
tendenziell mehr für schlechte als für gute Informationen
(Bad news are good news). Dies wird darauf zurückgeführt, dass die
Auseinandersetzung und Beachtung „gefährlicher Informationen“ für das
Überleben besser ist als die Konzentration auf gute Informationen
(Lieber auf die Raubtiere achten, als sich an den Kuscheltieren
erfreuen.
- Informationen stecken an
(ähnlich wie hochinfektiöse Viren) und verändern den Empfänger, der
fortan, der fortan die Welt nur noch durch die Brille der erhalten
Information wahrnehmen kann („Information = Deformation“).
- Wahrnehmung
ist immer auch stark sozial gesteuert. Wenn fünf Personen in
einem verdunkelten Raum behaupten, dass sich ein Lichtpunkt auf einer
Leinwand bewegt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die sechste
Person dessen Bewegungen wahrnehmen, auch dann, wenn er sich gar nicht
bewegt.
- Besonders die Selbstwahrnehmung
eines Menschen, also seine Identität, entsteht im sozialen Austausch,
insbesondere durch die Rückmeldungen anderer. Wenn sich Eltern und
andere wichtige Personen gemeinsam dahingehend äußern, dass ein Kind
musikalisch unbegabt ist, wird es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch
selbst als unmusikalisch betrachten und allenfalls nur wenige Versuche
starten, sich vom Gegenteil zu überzeugen. Die Abhängigkeit der eigenen
Identität von den Aussagen anderer spiegelt sich besonders in der weit
verbreiteten Sorge wider „Was die anderen wohl von mir denken?“
Solche Personen sind der Wirkung von Klatsch und Tratsch besonders
hilflos ausgeliefert. Indem Gesellschaften diese Sorge implantieren,
machen sie die entsprechend Behandelten einerseits sozial leichter
steuerbar, andererseits aber auch sensibler für Gefahren, die daraus
erwachsen könnten, dass andere sich gegen einen selbst verschwören. In
unserer extrem regulierten Massengesellschaft dürfte die erwähnte Sorge
allerdings eine immer unwichtigere Rolle spielen.
- Klatsch und Tratsch können mitunter
ein schwaches Selbstwertgefühl der Sprechenden stärken. Diese
machen sich entweder durch ihren Tratsch interessant (durch
dessen erhoffte Wirkung vielleicht sogar mächtig), zumindest
fühlen sie sich wahrgenommen und als Informanten geschätzt. Indem
sich der Tratschende negativ über andere äußert, wertet er
sich scheinbar selbst auf (bietet er sich selbst als der
vermeintlich bessere an).
- Klatschen und Tratsch dienen häufig
der Regelung eigener Emotionen („Dampf ablassen“), beispielsweise
wenn Ärger oder Neid auf Mächtigere im Spiel sind. Der
Klatschende oder Tratschende verarbeitet seinen eigenen Ärger
oder seine Aufregung, vielleicht seine Sensationsgier,
indem er sie mit anderen teilt. Durch deren Rückmeldungen
vergewissert er sich, über die Angemessenheit seiner
Aufregung. Indem seine Aufregung geteilt und bestätigt wird, wird
der Tratschende auch etwas beruhigt. Wenn sich auch der andere
aufregt, kann es dagegen zu einem Aufschaukelungsprozess kommen.
- Im Tratsch bestätigt man sich
gegenseitig fast immer die Gültigkeit der eigenen Normen.
- Da die Inhalte von Klatsch und
Tratsch oft prekär oder brisant sind, entlastet sich der Sprecher
(ähnlich wie bei einer Beichte). Klatsch und Tratsch können daher
auch eine „Entgiftungsfunktion“ haben.
- Wie jedes laute Reden dienen
Klatsch und Tratsch der Klärung eigener Vorstellungen nach der
Devise von Kleist, dass sich Gedanken mitunter erst beim Sprechen bilden
(anders ausgedrückt: Manches macht man sich erst beim Aussprechen
bewusst).
- Klatschende und Tratschende wollen
oft etwas erreichen, etwa einen Mitwisser oder einen
Mitstreiter zu finden. Tratschender und neuer Mitwisser bilden eine
Gemeinschaft. Sie fühlen sich dadurch weniger allein und formen
eine Gruppe, die vereint mitunter mächtiger wirkt als der „Betratschte“.
Klatsch und Tratsch können also auch verbinden und damit eigener
sozialer Isolierung entgegenwirken.
Welche einschlägigen Forschungserkenntnisse gibt es?
Sozialpsychologische Experimente lassen
vermuten, das Klatsch und Tratsch auch einen Überlebensvorteil
haben. Dafür spricht allein die Tatsache, dass es diese Kommunikationsform
offenbar schon lange gibt. Klatsch und Tratsch haben sich als
zwischenmenschliche Werkzeuge zweifelsfrei im Lauf der
Menschheitsgeschichte „bewährt“, sonst gäbe es sie nicht. In einem Versuch
erhielten Studenten beiderlei Geschlechts Exemplare von
Klatschzeitschriften. Anschließend wurden sie gefragt, welche Artikel
ihnen im Gedächtnis geblieben waren. Es stellte sich heraus, das Männer
und Frauen vor allem solche Artikel aufmerksam gelesen hatten, in denen
jeweils das eigene Geschlecht schlecht abschnitt. Offenbar sind solche
Informationen für das Überleben in der Welt besonders hilfreich,
vermuteten die beteiligten Wissenschaftler, da sie den eigenen Status
erhöhen und den des anderen erniedrigen. In einem anderen Experiment
(stille Post) wurden nach vier Runden vor allem solche Texte relativ
unversehrt weitergegeben, in denen es neben einer Personenbeschreibung
auch um pikante Details ging (wie Lügen und Untreue). Reine
Sachinformationen wurden am schlechtesten erinnert. Um sich sozial
einordnen und absichern zu können, benötigt der einzelne möglichst
viele Informationen über seine Mitmenschen und diese erhält er vor
allem auf dem Weg des Klatsches.
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