1. Was versteht man
unter „strukturbezogener Psychotherapie?
„Seelische Struktur“ ist ein
Oberbegriff für wichtige Grundfunktionen unserer „Psyche“. Letztere werden
schon in den ersten Lebensjahren nachhaltig angelegt. Wenn man von
„seelischer Struktur“ spricht, meint man damit die Art und Weise,
a)
wie wir uns selbst und andere
wahrnehmen,
b)
wie wir auf gefühlsmäßiger
Ebene mit uns selbst und anderen kommunizieren bzw. umgehen,
c)
wie wir unsere Impulse,
Gefühle und unseren Selbstwert selbst „regulieren“ bzw. wie wir unsere
Beziehungen zu anderen gestalten,
d)
wie gut unsere
„Bindungsfähigkeit“ ist (ob wir uns z.B. an andere binden und von
diesen ggf. auch wieder lösen können, ob wir gute Modelle von
Beziehungen verinnerlicht haben und diese zur Selbststeuerung
nutzen können).
Bei Angsterkrankungen, Depressionen und
Impulskontrollstörungen (wie etwa Essstörungen) sind diese Strukturen oft
unzureichend ausgebildet. Man spricht dann von „strukturellen Schwächen“
oder „strukturellen Störungen“.
2. Wie entstehen strukturelle
Schwächen?
Viele der von Angsterkrankungen, Depressionen
und Impulskontrollstörungen betroffenen Personen hatten (insbesondere in
der Kindheit) keine ausreichend guten Vorbilder. Entweder waren die Eltern
oder andere wichtige Bezugspersonen nicht vorhanden, mit eigenen Problemen
überfordert (wirtschaftliche Nöte, eigene Erkrankungen, insbesondere
Depression und Sucht) oder sie verhielten sich extrem uneinfühlsam oder
unsicher. In Ermangelung hilfreicher Rückmeldungen von der Umwelt lernten
sich die Betroffenen daher selbst nur unzureichend kennen. Außerdem lebten
ihnen andere nicht modellhaft vor, wie man gut mit sich und anderen
umgehen kann. Nur wenige Kinder können in solchen Situationen genügend
„Grundvertrauen“ entwickeln (insbesondere in Beziehungen), so dass sie
fortan als „bindungsunsichere“ Menschen durchs Leben gehen. Auf
körperliche Symptome, vor allem wenn diese bloß Gefühle ausdrücken,
reagieren die Betroffenen bis heute irritiert, hilflos oder im Extremfall
mit Angst oder Depression bzw. selbstschädigenden Impulsen. Bei
zwischenmenschlichen Schwierigkeiten sind sie rasch überfordert und
entwickeln mangels besserer Alternativen die erwähnten Krankheitsbilder.
Ein extrem wirksamer Ansatz von Psychotherapie ist daher die
„Nachentwicklung“ oder Verbesserung der noch unzureichenden seelischen
Fertigkeiten (bzw. „seelischen Strukturen“). Mit Hilfe von
„strukturbezogener Psychotherapie“ lernen die Patienten, insbesondere
Emotionen wahrzunehmen, zu unterscheiden, zu benennen und vor allem auch
sinnvoller darauf zu reagieren als bisher. Außerdem entwickeln sie im
Kontakt zum Therapeuten „Beziehungskompetenz“, um anschließend mit sich
und anderen besser umzugehen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich,
warum „strukturbezogene Psychotherapie“ vermutlich die effektivste und
wirtschaftlichste Form von Prävention überhaupt ist: Sie vermittelt
elementare Fähigkeiten, die es erlauben, unterschiedliche Krisen zu
bewältigen, OHNE Symptome entwickeln oder auf diese überschießend
reagieren zu müssen.
3. Wie
„seriös“ ist strukturbezogene Psychotherapie“?
Obwohl es offenbar noch immer Krankenkassen
und auch Fachkollegen gibt, die mit diesem Begriff noch wenig anfangen
können oder ihn gar als „Außenseitermethode“ betrachten, wird Wirksamkeit
und Sinn „strukturbezogener Psychotherapie“ heute in den einschlägigen
Fachkreisen nicht mehr angezweifelt. Professor Dr. med. Gerd Rudolf
(Heidelberg) Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie
nach § 11 PsychthG und in dieser Funktion 2006 sogar „oberster deutscher
Wächter über Psychotherapiemethoden“ hat der Methode (2004) ein eigenes
Lehrbuch gewidmet (G. Rudolf: Strukturbezogene Psychotherapie.
Leitfaden zur psychodynamischen Therapie. Schattauer 2004). Auch die
Arbeitsgruppe OPD2, in der namhafte deutschsprachige Wissenschaftler ein
Manual zur „Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik“ (2006)
entwickelt haben, beschreibt ausgiebig „strukturelle Störungen“ und die
daraus abzuleitenden diagnostischen und therapeutischen Konsequenzen (Arbeitskreis
OPD: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD-„. Das Manual für
Diagnostik und Therapieplanung. Huber 2006, vgl. besonders S. 338 ff.).
Wie Prof. Rudolf ausführt (S. 5) kann „strukturbezogene Psychotherapie
sowohl als eigenständige Therapie (wenn strukturelle Störungen das Bild
bestimmen) oder als therapeutisches Element im Rahmen einer analytischen
oder tiefenpsychologischen Behandlung verwendet werden.“
Missverständnisse mit nicht entsprechend weitergebildeten Kollegen
entstehen leider immer wieder dadurch, dass diese bei tiefenpsychologisch
orientierten Verfahren weiterhin auf der klassischen Vorgabe bestehen,
dass IMMER vorrangig ein KONFLIKT beschrieben und behandelt werden muss.
Diese Ansicht ist jedoch überholt, wie die o. g. Quellen aufzeigen. Heute
gilt als weitgehend gesichert, dass eine Erfolg versprechende Arbeit von
Konflikten erst möglich ist, wenn die dafür erforderlichen „strukturellen
Grundlagen“ geschaffen sind. Diesen gebührt also vor allem dann Vorrang,
wenn sie erst relativ schwach ausgebildet sind, die „Störung“ des
Patienten also mehr auf mangelnder Struktur als auf einem zentralen
Konflikt beruht. Sind die Strukturen erst einmal gelegt bzw.
„nachgereift“, lassen sich die meist immer vorhandenen zahlreichen
„Konflikte“ relativ leicht bewältigen. Nach meiner eigenen Erfahrung ist
dafür eine therapeutische Begleitung in manchen Fällen sogar entbehrlich,
da der Patient jetzt über alle dazu erforderlichen Kompetenzen selbst
verfügt.
4. Was
sind die technischen Besonderheiten „strukturbezogener Psychotherapie“?
Was Prof. Rudolf in seinem umfangreichen und
sehr gut lesbarenLehrbuch
detailliert beschreibt, kann hier nur angerissen werden.
Zu den Besonderheiten „strukturbezogener Psychotherapie“ gehört zum
Beispiel die Haltung des Therapeuten (vgl. S. 147), sich ausdrücklich und
bewusst hinter den Patienten zu stellen. Das bedeutet: die Sicht
des Patienten zu teilen, seine Klagen aufzunehmen und emotional zu
verarbeiten, sich für sein Leiden zu erbarmen, ihm „Hilfs-Ich-Funktionen“
zur Verfügung zu stellen, Schaden durch Vorsorge zu vermeiden und ihn als
Mentor, Coach oder Elternersatz zu unterstützen. Außerdem gilt es, sich
neben ihn zu stellen. Der Therapeut soll also die Aufmerksamkeit des
Patienten für dessen Situation teilen und diese zusammen mit ihm wie ein
Drittes untersuchen. Schließlich soll er sich auch dem Patienten
gegenüberstellen. Hier ist gemeint, dass der Therapeut den Patienten
„spiegelt“ (ihm seine eigene Wahrnehmung zur Verfügung stellt und ihm sein
Bild zurückgibt), dass er ihm „antwortet“ (ihm also seine emotionale
Resonanz zeigt), dass er sein eigenes Anderssein betont und dass er ihn
„konfrontiert“ (mit Aspekten der Realität und der eigenen Verantwortung).
Dementsprechend spezifisch sind auch die eingesetzten Methoden (wie
Anregungen zu psychischen Produktionen, klärende Fragen, Einladungen zur
Selbstreflektion, antwortende Mitteilungen, spiegelnde Äußerungen,
strukturierende Interventionen, aufzeigende und hypothesengeleitete
Interventionen sowie eine Chronikführung für ihre Erfahrungen, vgl.
Rudolf, S. 151).
5. Wie wird in der Praxis von
Dr. Mück „strukturbezogene Therapie“ umgesetzt?
Gegenüber Patienten mit strukturellen
Schwächen trete ich (situationsangemessen!) eher selten als
„schweigender“, sondern vermehrt als „antwortender“ Therapeut auf, der
sich um Rückmeldungen bemüht und diese auch aktiv einholt. In meinem
Rollen- und Beziehungsverhalten will ich auch Vorbild sein. Ich gebe
Erläuterungen und versuche, durch mein eigenes Beispiel zu beruhigen. Im
Verlauf der Sitzung erfolgen dann Aufgaben („Konfrontationen“), die erneut
und bewusst „aufregen“, um so dem Patienten die Erfahrung zu vermitteln,
wie entsprechende Zustände entstehen und sich anschließend von ihm selbst
regulieren lassen (anfänglich übernimmt noch der Therapeut die
„Regulation“). In diesem Zusammenhang hat sich das Konzept der
Doppelsitzungen bewährt. Da Patienten zu Beginn eines Treffens
erfahrungsgemäß sehr aufgeregt sind, sich erst einmal Bewegendes „von der
Seele sprechen“ müssen (um ruhiger zu werden) und dann ihre „Hausaufgaben“
erörtern wollen, bleibt für neue Impulse im Rahmen einer Einzelsitzung
meist zu wenig Zeit. Um dieses Dilemma zu vermeiden führe ich seit
geraumer Zeit mit Erfolg strukturbezogene Psychotherapie möglichst nur
noch in Form von Doppelsitzungen durch. Ein weiterer konzeptueller
Vorteil 14-täglicher Doppelsitzungen besteht darin, dass der Patient schon
bald gehalten ist, über eine längere Zwischenzeit sich selbst zu
regulieren. Er lernt also schon frühzeitig, möglichst alleine zurecht zu
kommen. Dabei hilft ihm die Möglichkeit, sich jederzeit per E-Mail beim
Therapeuten rückzuversichern und zeitnah eine hilfreiche Rückmeldung zu
erhalten. Dieses Konzept, das Hausaufgaben, persönliche Merkzettel
(„Therapeutische Rückmeldungen“) und schriftliche „Sitzungsfeedbacks“ des
Patienten zu jeder Sitzung einschließt, hat sich bereits in vielen
Behandlungen eindrucksvoll bewährt (siehe die entsprechende Studie unter
www.praxisforschung.de/2005/Internettherapie_Einleitung.htm ).
Mitunter macht diese Vorgehensweise es sogar möglich, durchweg teurere
stationäre Behandlungen zu erübrigen, die sonst dringend indiziert wären.
Nachtrag: Seit 2013 liegt das erwähnte Buch von Prof. Rudolf bereits
in der 3. Auflage vor. Zwischenzeitlich hat die "Strukturbezogene
Psychotherapie" viele Anhänger gefunden. Die Quellenangaben im
voranstehenden Beitrag beziehen sich noch auf die Erstauflage. Hier sind
die bibliografischen Angaben für die 3. Auflage: Rudolf, Gerd:
Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur psychodynamischen
Therapie struktureller Störungen. Schattauer, 3. Auflage 2013. ISBN
978-3-7945-2857-8. 276 Seiten. Euro (D) 49,95, Euro (A) 51,40,
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