Belgien. Vor einer unkritischen Anwendung von Depressions-Rating-Skalen
warnen K. Demyttenaere und J. De Fruit. Nach Ansicht der belgischen
Wissenschaftler werden die drei gängigsten Instrumente oft willkürlich
eingesetzt, obwohl sie sich in wesentlichen Punkten unterscheiden. So
beinhalten die Hamilton Depression Rating Scale (HDRS) und Montgomery
Åsberg Depression Rating Scale (MADRS) Bewertungen von Beobachtern,
während das Beck Depression Inventory (BDI) auf einer Selbstbeurteilung
beruht. HDRS und MADRS spiegeln vor allem den Effekt von Antidepressiva
wider, während sich im BDI besonders psychotherapeutische Wirkungen
abbilden. Nach Ansicht von Demyttenaere und De Fruyt gleicht die HDRS
einem undifferenzierten Auffangkorb für Antidepressiva schlechthin und die
MADRS einem ebensolchen für alle möglichen Formen von Depressionen. Eine
differenziertere Beurteilung ermöglichen beide Instrumente nicht. Dazu
passt, dass alle genannten Rating-Skalen schon über 20 Jahre alt sind und
daher neuere Erkenntnisse unzureichend berücksichtigen.
Besondere Kritik üben die Autoren an der Praxis, die genannten Skalen auch
zur Depressionsdiagnostik zu verwenden, obwohl diese primär den
Schweregrad von Depressionen beschreiben sollen. Viele der abgefragten
Dimensionen sind zudem wenig depressionsspezifisch. Dies führt nicht nur
dazu, dass auch Patienten mit generalisierter Angststörung, Bulimie oder
anderen psychopathologischen Problemen einen erhöhten Score erzielen –
zusätzlich bildet sich auf ihnen für Medikamente wie Neuroleptika und
Benzodiazepine ein „antidepressiver Effekt“ ab. Besserungen im Gesamtscore
müssen noch lange nicht bedeuten, dass sich vor allem alltagsrelevante
Kernsymptome einer Depression günstig entwickelt haben. Leider bilden die
genannten Skalen auch nicht die besonderen Stärken spezifischer
Behandlungsmaßnahmen ab. So erscheinen Fluoxetin und Reboxetin ähnlich
wirksam, während erst die Einbindung einer Skala zum sozialen
Funktionieren zeigt, dass Reboxetin in dieser Hinsicht deutlich überlegen
ist. Nicht zuletzt kritisieren die Autoren, dass die gängigen Skalen
einseitig die Abnahme depressiver und ängstlicher Symptome registrieren,
andere affektive Symptome (Ärger, Feindseligkeit, Irritabilität) aber
vernachlässigen und die Entwicklung positiver Eigenschaften oder Zustände
völlig ignorieren.
K.
Demyttenaere u.a.: Getting what you ask for: On the selectivity of
depression rating scales. Psychother. Psychosom. 2003 (72) 61-70
Deutsche Quelle:
www.zns-spektrum.com
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