Von Sabine Scholz
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Ich kann mich noch genau daran erinnern, wann ich
mich zum ersten Mal depressiv gefühlt hatte, obwohl ich da das Wort noch
nicht kannte. Ich war 4 Jahre alt und lebte in einer kleinbürgerlichen
Familie, für die das Wort "Depression" etwas unanständiges war wie z.B.
das Wort "Sex". Nicht, dass man glaubte der Sex und die Depression wären
synonym, doch hingen sie auf eine undefinierbare Weise zusammen. Kein
Wunder, dass in unserer Verwandtschaft später niemand erfahren durfte,
dass ich depressiv geworden war. Meine Eltern hatten damals so wenig
Geld, dass sie sich keine Wohnzimmereinrichtung kaufen konnten. An
Weihnachten thronte also der geschmückte, glitzernde Weihnachtsbaum in
einem leeren Zimmer. Das hätte durchaus trostlos auf ein vierjähriges
Kind wirken können, tat es aber nicht.
Nein, meine erste Depression wurde durch etwas
anderes hervorgerufen. Wenn fremde Leute zu Besuch kamen, versteckte ich
mich immer unter der Bank in der Küche. An diesem Weihnachtstag besuchte
uns der Chef meines Vaters. Er brachte mir ein riesiges schwarzes
Plüschtier mit, vor dem ich mich fürchtete. Der Mann kam also mit diesem
Monstrum auf mich zu und erwartete Dankbarkeit von meiner Seite. Ich sah
mich um und wollte mich verstecken, doch es war nichts da, unter das ich
hätte kriechen können. Das Zimmer war hell erleuchtet, das Wachs lief an
den Kerzen herunter und ich bekam das Riesenviech in die Arme gedrückt
und gleichzeitig meine erste Depression. Während meiner Schulzeit wurde
ich immer depressiver. Ob das am langweiligen Schulstoff lag oder an den
Klassenkameraden und Lehrern, die überhaupt nicht dazu in der Lage
waren, mich aufzuheitern? Vielleicht waren sie auch depressiv und
wollten es nur nicht zugeben.
Jedenfalls bin ich davon überzeugt, dass meine
Depression daran schuld war, dass ich während meiner Schulzeit mit
keinem einzigen Jungen ausging, und nicht etwa mein Aussehen. Mit 17
erfolgte dann der erste Selbstmordversuch. Ihm sollten viele weitere
folgen. In Latein, meinem Lieblingsfach, hatte ich die erste Fünf meiner
Schulkarriere bekommen. Es war eine Übersetzung eines Catull-Gedichts:
"Ich weinte und ich sang: so wird es bleiben, und Tag wie Nacht
verströme ich den Schmerz der Seele mit den Augen, mit dem Lied."
Anstatt "verströme" hatte ich "verhöhne" übersetzt. Ich fühlte mich als
Versagerin. Da ich keine Freunde hatte, konnte ich mich von niemandem
trösten lassen, sondern ging allein mit dem verhunzten Catull-Gedicht in
der Tasche zur U-Bahnhaltestelle. Ich wollte mich vor den nächsten Zug
werfen. Doch dann kamen mir ein paar andere Zeilen in den Sinn: "Ich bin
ein neunsilbiges Rätsel, Ich bin ein Mittel, eine Bühne, eine Kuh im
Kalb. Ich habe eine Tüte grüner Äpfel gegessen, bin in den Zug
gestiegen, von dem es keinen Ausstieg gibt." Ich fühlte mich gleich
besser und wollte das Leben nicht so leichtfertig von mir werfen.
Jedenfalls nicht, bevor ich nicht wirklich geliebt hätte.
Als ich an die Universität kam, trat meine
Depression in die Hochblüte. Sobald ich den Fuß in die Philosophische
Fakultät setzte, kamen mir die Tränen, die ich mit Mühe und Not zu
unterdrücken versuchte. Dann kamen einige Männerbekanntschaften und die
ersten sexuellen Erfahrungen, die mich jedoch nicht von meiner
Depression befreiten, sondern sie eher noch verstärkten. Durch die
philosophische Dialektik geschult begann ich mich ernsthaft zu fragen,
ob ich überhaupt depressiv war. Vielleicht handelte es sich nur um eine
Kategorienverwechslung wie man z.B. Gruppentherapie mit Gruppensex
verwechseln konnte?