Noch besser als das deutsche Wort
zeigt der entsprechende englische Begriff, worum es bei „VerANTWORTung“
besonders geht: um die „RESPONSE-ability“, also die FÄHIGKEIT, eine
Antwort geben und hierbei insbesondere mit Worten reagieren zu können.
VerANTWORTungsFÄHIGKEIT und Antwort-Fähigkeit („Responsivität“) sind
offenbar nicht nur sprachlich, sondern auch aufgrund des gemeinten
Lebensbezugs sehr verwandt. Da Antworten nur in Beziehungen Sinn machen
(sonst wären es Monologe), gehört VerANTWORTungsfähigkeit zu den besonders
wichtigen Beziehungskompetenzen. VerANTWORTung hat vor allem deswegen
wortwörtlich etwas mit „Antwort“ zu tun, weil zwischenmenschliche
Handlungen immer (!!) erst durch die Antworten, die sie auslösen bzw.
erhalten, ihren für die Interaktion relevanten Sinn bekommen, ja existent
werden. Der zuerst Handelnde bzw. Kommunizierende kann zwar beabsichtigen,
durch sein Verhalten und seine Worte seinem Interaktionspartner eine
bestimmte Information zu vermitteln. Was das Ganze letztendlich „bedeutet“
(auslöst und damit bewirkt, also Wirklichkeit schafft), entscheidet jedoch
erst der Antwortende durch seine Deutung dieses Bemühens (inklusive seiner
damit verbundenen Reaktionen).
Letztendlich ist es also der
Antwortende, der besondere VerANTWORTung für die Erschaffung von
(zwischenmenschlicher) Wirklichkeit trägt. Er bestätigt, ignoriert oder
ersetzt das mit dem jeweiligen Verhalten verbundene Weltbild bzw. die
Verhaltensregeln des Handelnden. Beispiel: Wenn ich eine andere Person
anlächele, entscheidet erst deren Reaktion, ob mein Verhalten in dieser
konkreten Situation als „Sympathie-Bekundung“, „Einladung zum Kontakt“,
„unsicheres Vermeidungsverhalten“ oder als „Auslachen“ oder „Spott“ WIRKEN
kann. Wer auf eine andere Person antwortet, vermittelt dieser das Erleben,
nicht nur einer Antwort würdig zu sein („Wertschätzung“), sondern diese selbst
auch ausgelöst zu haben. Letzteres fördert das wichtige Grundgefühl, in dieser
Welt etwas bewirken zu können. Beides zusammen erzeugt ein Gefühl von
Lebendigkeit. Wer dagegen nicht mehr antwortet, lässt nicht nur die Beziehung
absterben, sondern verweigert dem anderen auch eine Bestätigung seiner
Existenz. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verständlich, warum
Computerspiele und Internet, mit ihren eindrucksvoll prompten und persönlich
wirkenden „Antworten“ auf viele Menschen so faszinierend wirken und mitunter
auch süchtig machen können. Sehr oft wird man in der Vorgeschichte der
Betroffenen einen Mangel an Beantwortung („AnERKENNUNG“) finden. Bedeutsame
VerANTWORTung tragende Personen sind neben Eltern und anderen wichtigen
Bezugspersonen vor allem auch Psychotherapeuten.
Schon diese wenigen Hinweise dürften verdeutlichen, dass „VerANTWORTung“ und
die in dem Begriff enthaltene „Antwort“ sehr viel mit unserer Menschwerdung
bzw. Persönlichkeitsreifung zu tun haben: Wer als Kind kaum „beAntwortet“
wurde (indem er nicht ausreichend auf ihn abgestimmte Beachtung erfuhr), wird
sich auf Dauer selbst kaum kennen lernen. Er wird möglicherweise das Gefühl
entwickeln, unbedeutsam oder als Person gar nicht wahrnehmbar oder mit Worten
nicht fassbar zu sein. Ist dies der Fall, kann sich ein ausreichendes
Identitätsgefühl nur schwer entwickeln. Außerdem wird der Betreffende dazu
neigen, sich fremden Vorstellungen anzupassen, statt eigene zu entfalten.
Später wird er aufgrund der mangelnden Selbstkenntnis nur mit Mühe zu
authentischen Antworten in der Lage sein (ungenügende „RESPONSE-ability“).
Doch damit nicht genug: Ein in seiner persönlichen Entwicklung zu wenig
be-Antworteter Mensch erlebt in diesem Mangel auch einen Mangel an „Bindung“
an andere. Da das Bedürfnis nach Bindung für jeden von uns elementar ist, kann
ein zu wenig be-Antwortetes und damit nicht sicher gebundenes Kind in seiner
Not sogar zu einer Rollenumkehr bewogen werden. Dies erfolgt oft nach
folgendem Schema: Um die Beziehung zu den wichtigen Bezugspersonen trotzdem
aufrechtzuerhalten, also deren Aufmerksamkeit zu erhaschen, wechseln manche
Kinder notgedrungen die Rollenverteilung: Indem sie die Bedürfnisse der
(erwachsenen!) Bezugspersonen genau wahrnehmen und diese möglichst auch
bedienen (also ihrerseits „beantworten“), übernehmen sie automatisch und viel
zu früh VerANTWORTung, ohne dafür ausreichend herangereift zu sein
(Fachausdruck: „Parentifizierung“, abgeleitet von dem lateinischen Wort „parentes“
= Eltern). Da es sich um eine sehr früh erlernte „Überlebensstrategie“ zur
„Beziehungsregulation“ handelt, bleibt diese (unbewusst!) oft lebenslang
erhalten. Sie verleitet die Betroffenen dazu, über das notwendige Maß hinaus
immer und immer wieder Verantwortung zu übernehmen. Oft handelt es sich um
sehr angepasst wirkende und im Umgang mit sich selbst mitunter hilflos
erscheinende Menschen. Mangels ausreichender „Be-Antwortung“ ihrer eigenen
Gefühle und Eigenarten, bleiben ihnen diese in der Eigenwahrnehmung eher
verborgen, während sie die Gefühle und Eigenarten anderer meist hochsensibel
registrieren. So kommt es, dass viele gar nicht oder erst sehr spät fühlen,
wenn ihre Belastungsgrenzen (durch ein Übermaß an übernommener Verantwortung)
überschritten sind.
Wer dagegen als Kind das Glück hatte, dass ihr oder ihm ausreichend
verANTWORTungsfähige Bezugspersonen zur Seite standen, wird sich in den auf
ihn abgestimmten (insbesondere auch emotionalen!) Antworten („Feedbacks“)
wiedererkennen und so zu einer in sich stimmigen und selbst
verANTWORTungsFÄHIGEN Persönlichkeit heranreifen. Der VerANTWORTungsFÄHIGKEIT
immanent scheint also auch die Aufgabe zu sein, durch Antworten (Feedbacks)
anderen zu mehr Selbst-BEWUSSTSEIN zu verhelfen. Um dieses Ergebnis zu
erreichen, müssen Antworten („Feedbacks“) auf den jeweiligen Zustand des
anderen abgestimmt sein und insbesondere auch dessen Gefühlsmitteilungen
angemessen beantworten („validieren“, siehe eigenes Merkblatt). Im Begriff
„Feedback“ (das sich oft synonym mit „Antwort“ verwenden lässt, „Rückmeldung“
erscheint mir zu militärisch) klingt zugleich an, dass es sich im optimalen
Fall um einen wechselseitig miteinander verwobenen Prozess handelt, bei dem
wir uns gegenseitig „nähren“ (engl. to feed) bzw. zu bewusster Existenz
verhelfen. Erst dadurch können wir reifen bzw. letztlich erwachsen werden. Wer
dagegen anderen kein Feedback gibt, lässt diese oft regelrecht in ihren
Entwicklungsmöglichkeiten „verhungern“.
Eine optimale „Response-Ability“
dürfte sich besonders gut mit den von der Bindungsforscherin Mary Ainsworth
beschriebenen Kriterien der „Feinfühligkeit“ beschreiben lassen: 1. Erkennen,
dass ein anderer ein Signal sendet. 2. Dieses Signal aus der Perspektive des
Anderen deuten. 3. Angemessen (also mit der passender Dosis) darauf zu
reagieren. 4. Prompt zu reagieren. Als weiteres Kriterium würde ich selbst die
Fähigkeit hinzurechnen, nicht nur die Ursachen der erforderlichen Antwort,
sondern auch deren mögliche Folgen zu bedenken. In der Regel ist es auch
hilfreich, dem anderen wissen zu lassen, inwieweit das bei einem selbst
ausgelöste Gefühl, mehr mit dem anderen oder mehr mit der eigenen Person und
deren Vorgeschichte zu tun hat (Dies setzt natürlich eine sehr gute Kenntnis
der eigenen Person voraus). Wer über diesen Mix aus Fähigkeiten „ausreichend“
gut verfügt, ist verANTWORTungsfähig und handelt dadurch „erwachsen“.
Der Informationsaustausch zwischen einem verantWORTungsfähigen Mensch und dem
„BeantWORTeten“ erfolgt oft auf symbolischer Ebene (insbesondere durch
Sprache, die symbolhaft für die mit ihr mitgeteilten Inhalte steht). Indem man
bei einem anderen Menschen die Fähigkeit zur Symbolisierung fördert, versetzt
man ihn auch in die Lage, sich von einem rein handlungsbezogen gelebten Leben
(„Aktionismus“) auf eine symbolische Ebene zu begeben. Von dieser aus kann man
sich dann mit dem nötigen Abstand (wie aus der Vogelperspektive) selbst
betrachten und sich so seiner selbst bewusst werden. Symbole sind zudem oft
sehr viel informationsreicher als andere Kommunikationsmittel. Möglicherweise
nutzen wir bei unserer Selbstregulation Symbole in einem weitaus größeren Maß,
als uns bewusst ist (Analogie: Es genügt auf dem Bildschirm eines Computers
auf ein einziges Symbol („Icon“) zu „klicken“, um ein umfangreiches und uns im
einzelnen unvertrautes Programm in Gang zu setzen. Warum sollte es in unserem
Gehirn anders ablaufen, zumal Computer Produkte (Abbilder? Symbole?) unseres
Gehirns sind.
Wer sich verANTWORTungsVOLL verhält, kann das menschliche Miteinander über
Worte regulieren, was insbesondere den Verzicht auf Gewalt und andere
Machtmittel ermöglicht. Welche gewichtige Rolle „Antworten“ für das
menschliche Miteinander spielen, zeigt unsere Umgangssprache in Formulierungen
wie „einer Antwort wert sein“, „die Antwort schuldig bleiben“ oder die
„Antwort verweigern“. Fast jeder weiß, dass Ignoranz (also keine Antwort zu
geben) zu den schmerzhaftesten zwischenmenschlichen „Strafen“ gehört.
Ein wesentliches Zeichen von „Reife“ oder „Erwachsenwerden“ sind somit die
Bereitschaft und die Fähigkeit, VerANTWORTung zu übernehmen. Menschen, die
dazu noch nicht in der Lage sind, erkennt man oft daran, dass sie für
„Probleme“ die „Schuld“ bei anderen suchen. Dadurch verhalten sie sich so, als
hätten sie mit der jeweiligen Angelegenheit nichts zu tun. Sie tun so, als
sollte möglichst ein anderer und nicht sie selbst „Rede und Antwort stehen“.
Erwähnt sei auch das Phänomen, das manche Personen pausenlos sprechen und auf
diese Weise letztendlich verhindern, dass andere ihnen antworten. Ob hinter
einem solchen Phänomen eine von Vorbildern übernommene ungünstige Gewohnheit
steht („Wer immer nur spricht, erfährt nichts über sich selbst“) oder sich der
Versuch verbirgt, sich durch Antworten nicht beeinflussen zu lassen (Angst!),
oder ob weitere Gründe eine Rolle spielen, hängt immer vom Einzelfall ab.
Verantwortung wird zwar oft als „Pflicht“ erlebt, hat mit dieser aber weder
sprachlich noch funktional viel zu tun: Während Verantwortung als „Response-Ability“
eine in uns angelegte Fähigkeit darstellt, werden Pflichten in aller Regel von
außen an uns herangetragen und eher als „Fremdkörper“ erlebt.
Vor dem hier nur grob skizzierten Hintergrund wird verständlich, dass sich
innerhalb der Psychotherapie eine spezielle Richtung entwickeln konnte, die
sich besonders dem „Prinzip Antwort“ verschrieben hat (Heigl-Evers,
psychoanalytisch-interaktionelle Methode). Auch in meinem therapeutischen
Angebot nehmen „Antworten“ bzw. „Feedbacks“ sowie die Einladung zur
VerANTWORTUNGsübernahme eine zentrale Stellung ein, sei es in Form der
schriftlichen „Therapeutischen Rückmeldungen“, in Form des „Sitzungsfeedbacks“
durch den Patienten oder in Form des Angebots einer „Email-gestützten
Begleitung“. Besonders bei Emails kann ich immer wieder beobachten (und an der
Zahl der gesendeten Mitteilungen quantitativ einigermaßen gut ablesen), wie
„hungrig“ mancher Schreibende nach Antwort bzw. FEEDback ist. Ich ermutige
immer gerne dazu, eine erwachsene Kultur der VerANTWORTungsFÄHIGKEIT zu
entwickeln und zu leben. Dabei geht es dann darum, dass alle Beteiligten
gleichermaßen verANTWORTungsFÄHIG sind. Es gilt, im Dialog gemeinsam zu
verantwortende Bedeutungen auszuhandeln und damit eine gesunde soziale und
mentale Wirklichkeit zu konstruieren.
Abschließend noch eine Anmerkung zu den Begriffen „Wort“ und „VerantWORTung“.
Die außergewöhnliche Funktion und Bedeutung des „Worts“ für die menschliche
Zivilisation unterstreichen zentrale Sätze aus der Bibel. So heißt es im
Johannes-Evangelium (Kapitel 1, Vers 1) „Am Anfang war das Wort“ und findet
sich in der Schöpfungsgeschichte der Satz (Genesis 1,3) „...und Gott sprach:
Es werde... und es ward“. Bezogen auf unsere Entwicklung als Menschen mit
Bewusstsein könnten diese Aussagen bedeuten, dass erst die Einführung von
Worten es uns erlaubte, einzelne Phänomene als etwas vom „Rest der Welt“ zu
Unterscheidendes bzw. als Schöpfung zu erkennen. Beispiel: Eskimos können
viele Formen des Schnees vermutlich nur deswegen so gut erkennen und darauf
bezogen dann auch leben, weil es für diese „Schneearten“ eigene Worte
(Symbole) gibt. Worte erschaffen also auch Wirklichkeit. Deswegen erscheint
der angemessene Umgang mit Worten als besonders verantWORTliche Aufgabe. Wer
als Lehrer ein Kind als „asozial“ oder „lernunfähig“ etikettiert oder als
Psychotherapeut einen Patienten als „verhaltensgestört“ diagnostiziert und
damit von anderen abhebt, kann allein durch die Wortwahl Wirklichkeiten
erzeugen, unter denen die Betroffenen lebenslang leiden.
Dieser Text verdankt einige
wichtige Anregungen den Bücher „Das Risiko der Verbundenheit –
Intersubjektivitätstheorie in der Praxis“ von Chris Jaennicke (Klett-Cotta
2007) und „Therapeutische Räume. Zur Theorie und Praxis psychotherapeutischer
Interaktionen“ von Klaus Brücher (Spektrum Akademischer Verlag 2005).
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