Kennen Sie den Satz, dass man gut
daran tut, den anderen erst einmal dort abzuholen, wo dieser (innerlich)
gerade ist? Leider beherzigen viele Menschen diese Lebensweisheit nicht,
sondern „poltern“ beispielsweise direkt los oder schütten unmittelbar ihr
Herz aus, sobald sich die von ihnen angerufene Person am Telefon mit
„Hallo“ meldet, ein Bekannter ihnen auf der Straße begegnet oder sie auf
einem Fest einen Freund treffen. Offenbar setzen sie voraus, dass der
Andere genau so an dem Gespräch und dem angesprochenen Thema interessiert
ist wie sie selbst. Solchen Personen fällt es meistens sehr schwer sich
vorzustellen, dass andere Menschen im gleichen Moment möglicherweise mit
völlig anderen Dingen und Interessen beschäftigt sind. Sie können kaum
nachvollziehen, dass sich deren Stimmung und Gefühle von den eigenen oft
eher unterscheiden und eher selten von vornherein mit diesen
deckungsgleich sind. In der Fachsprache sagt man, den Betreffenden fehle
eine „Theory of Mind“ oder anders ausgedrückt: Sie sind nicht in der Lage
sich bewusst zu machen, wie sehr sich die eigene Psyche in ihren
Vorstellungen und Funktionieren mitunter von der Psyche anderer abhebt.
Die aufgrund der möglichen Diskrepanzen drohenden Missverständnisse,
Kränkungen und Verletzungen lassen sich weitgehend vermeiden, wenn man zu
Beginn eines jeden Kontaktes versucht, sich erst einmal gegenseitig
aufeinander abzustimmen (ähnlich wie sich Musiker vor einem gemeinsam
gespielten Stück auf einen gemeinsamen Ton einspielen). Wer diese Mühe aus
Bequemlichkeit scheut, zahlt letztendlich doch drauf. Denn wenn das Gegenüber
nicht „auf Sendung ist“, spricht man wie gegen eine Wand und alle aufgewandte
Energie bleibt ohne Effekt.
Die Kunst, sich aufeinander abzustimmen, erlernt jeder Mensch mehr oder
weniger gut von Geburt an: Wenn das Baby schreit, um auf seine Bedürfnisse
aufmerksam zu machen und seine Bezugspersonen mehr oder weniger gut reagieren,
macht das Baby seine ersten Grunderfahrungen in zwischenmenschlicher
Abstimmung. Sie können lebenslang prägen. Menschen, die sich als Erwachsene
kaum oder nur schwer abstimmen können, fehlen vermutlich ausreichend gute „Abstimmungserfahrungen“
in der frühen Kindheit. Die Bindungsforscher sprechen in diesem Zusammenhang
auch von mangelndem „Attunement“.
Ob
und wie gut ein Mensch sich abstimmen kann, merkt man nicht nur daran, wie er
das Gespräch eröffnet („Rufe ich zu einem günstigen Zeitpunkt an? Hättest du
Lust jetzt mit mir etwas zu reden? Wie geht es dir gerade?“). Auch
Zwischenfragen können die „anhaltende Abstimmungsbereitschaft“ signalisieren
(„Interessiert dich das noch? Spreche ich zu viel, zu schnell, zu laut? Wie
geht es dir mit dem, was ich dir gerade erzählt habe?“). Außerdem erkennt man
„abstimmungskompetente“ Menschen daran, dass sie ihren Redefluss an
nonverbalen Signalen des anderen ausrichten, also beispielsweise diesen
stoppen, wenn sie anhand der Mimik ihres Zuhörers registrieren, dass der
andere gerade etwas entgegnen möchte. Sie „ziehen also nicht nur konsequent
ihr Ding durch“. Vielmehr passen sie Sprechtempo, Lautstärke, Betonungen,
Sprechmelodie, gewählte Sprachbilder, Dialekteinfärbungen und Redepausen der
Sprachwelt ihres Gegenübers an.
Wie bedeutsam „gegenseitige Abstimmung“ für uns Menschen sein kann, belegen
mitunter traumatisch wirkende Erfahrungen. Typischerweise prallen dabei zwei
oder mehr Menschen in völlig unterschiedlichen Gefühlszuständen aufeinander
und jeder versucht einseitig – ohne Abstimmungsversuch –seine Welt auszuleben.
Beispiele: Ein Kind läuft strahlend auf seine Eltern zu, um diesen stolz ein
gemaltes Bild mit der Aufforderung zu zeigen „Seht nur!“, wobei es direkt eine
Ohrfeige erhält mit dem Kommentar „Du solltest doch dein Zimmer aufräumen!“
Oder jemand überschüttet einen anderen mit seinem ärgerlichen Äußerungen über
eine nicht anwesende Person, wobei der „Zuhörer“ innerlich voller Trauer ist,
weil er gerade vom Tod seiner Mutter erfuhr. Während solche „krassen“
Beispiele mangelnder Abstimmung fast jeden von uns von der Notwendigkeit des
sich Abstimmens überzeugen, ist dies bei weniger offensichtlichen
Unterschieden leider nicht der Fall. Dabei reichen oft schon minimale
„Fehlabstimmungen“ aus, um das Gespräch bzw. den Kontakt ins Nichts laufen zu
lassen (weil eine Partei schon nicht mehr ausreichend auf Empfang eingestellt
ist, was man allerdings oft erst im Nachhinein merkt).
Wie und worüber sollte man sich nun vor allem „abstimmen“? Am hilfreichsten
ist es vermutlich, sich immer und immer wieder Rückmeldungen („Feedback“) beim
Gegenüber einzuholen. Geeignete Fragen sind: „Wie ist das bei dir angekommen?“
„Was hat es bei dir ausgelöst?“ „Wie hast du es verstanden?“ Wichtig ist es
dabei, dem anderen ausreichend Zeit zu lassen, sich auf die neue Situation
bzw. den Kontakt „einzustimmen“. Das beste Ergebnis erzielt ansonsten
wahrscheinlich der Versuch, möglichst direkt die bei den Beteiligten gerade
aktiven Bedürfnisse in Einklang zu bringen, soweit dies möglich ist. Einklang
heißt dabei niemals, dass einer sein Bedürfnis zugunsten der Bedürfnisse eines
anderen „aufgibt“ – so etwas geht vermutlich nicht. Offenbar ist dann eine
Partei bereit, ihre Bedürfnisse zu „unterdrücken“, was ganz offensichtlich
kein „Abstimmen“ ist. Die Abstimmung von Bedürfnissen ist keineswegs einfach.
Die Schwierigkeiten beginnen oft schon damit, dass sich die Gesprächspartner
ihrer momentan wichtigsten Bedürfnisse gar nicht bewusst sind. Da wir in einer
Gesellschaft leben, die eher „coole Typen“ schätzt, werden Bedürfnisse
tendenziell mit „Bedürftigkeit“ in Verbindung gebracht und deshalb eher
verleugnet. Andererseits erzeugt die gleiche Gesellschaft ständig auf
künstlichem Wege neue Bedürfnisse, um den Konsum anzuheizen. Sollte es den
Gesprächspartnern dennoch gelingen, ihre Bedürfnisse zu spüren und klar genug
zu benennen, werden sie oft überrascht feststellen, dass sich viele der
geäußerten Bedürfnisse gar nicht widersprechen. In einer „konzertierten“
Aktion lassen sich dann oft mehr Bedürfnisse befriedigen, als man auf den
ersten Blick erwartet hätte.
Woran erkannt man eine gelungene Abstimmung? Wer dies schon einmal erfahren
hat, dem braucht man dies vermutlich gar nicht mehr erläutern. Ansonsten gilt:
Gelungene Abstimmung erzeugt „Flow“ (es gibt kaum noch „Reibungsverluste“) und
erzeugt dadurch Glücksgefühle. Die eigenen Bedürfnisse kommen zum Zug, ohne
dass es besonderer (bzw. gewohnter!) Anstrengung bedarf. |