Im Mittelpunkt des äußerst lesenswerten Buches
„Das dialogische Selbst“ (von Frank M. Staemmler) steht die Annahme, dass
unser sog. Selbst nichts einmalig Feststehendes ist. Vielmehr entsteht das
„Selbst“ von Moment zu Moment aufgrund innerer und äußerer Dialoge neu.
Oder wie der Autor schreibt: Das Selbst „entsteht in seiner jeweiligen
Form erst durch die Kontakte, die es aktuell eingeht. Das Selbst
manifestiert sich situativ, also während man handelt, spricht und sich
ausdrückt.“ Diese situations- und auch körperbezogene dynamische
Sichtweise bietet beeindruckende Verständnismöglichkeiten dafür, warum
Menschen in bestimmter Weise denken und sich verhalten. Zugleich zeigt sie
einleuchtende und optimistisch stimmende Wege auf, das „Selbst“ neu oder
anders stattfinden zu lassen, etwa durch Verinnerlichung günstigerer
Dialoge bzw. Interaktionen. Diese können dann künftig zu hilfreicheren
„Selbstgesprächen“ führen. Welche Methoden sich dafür anbieten, zeigt der
Autor im erwähnten Buch auf.
Staemmler
vertritt eine „postmoderne“ Sichtweise, die skeptisch gegenüber der
Vorstellung ist, dass die Natur der Dinge gegeben sei. Immer wieder warnt
der Autor vor unserer (auch sprachlich geförderten) Neigung, alles
Mögliche (insbesondere Abstraktes) zu „verdinglichen“ und den Phänomenen
so eine nicht gegebene Dauerhaftigkeit und Unveränderbarkeit anzudichten.
Der als Gestalttherapeut tätige Verfasser ermutigt dazu, den Menschen vor
allem in seinen sozialen Bezügen zu sehen, die für Menschen allzu
verlockende egozentrische Perspektive zu verlassen und das Selbst als
einen ständigen Prozess zu betrachten, bei dem das Selbst gleichzeitig mit
vielen anderen Phänomen in Kontakt stehen kann.
Das Buch
enthält vor allem in seiner zweiten Hälfte viele praktische Hinweise, so
etwa den Tipp, eine im inneren Dialog stenogrammähnlich verkürzte
automatische Sprache („Abkürzung“) wieder erlebensmäßig zu entmischen, zu
verlangsamen, zu entautomatisieren und schließlich in eine normale
Dialogform zu bringen. Erst durch eine solche Transformation von (innerer)
Abkürzungssprache in eine (äußerlich) verständliche Dialogsprache, werden
Verantwortlichkeiten und wichtige Aspekte des Erlebens wieder bewusst und
damit einer Bearbeitung und Selbstregulation zugänglich.
Für viele
psychotherapeutisch tätige Menschen dürfte auch folgende Irritation
nützlich sein: Mit ausführlicher Begründung stellt der Autor das
„Konsistenzprinzip“ (Streben nach Widerspruchsfreiheit) in Frage, das von
vielen Psychotherapeuten bis heute als „Grundbedürfnis“ eingestuft wird
und daher therapeutisches Handeln leiten kann. Staemmler macht nun darauf
aufmerksam, dass es hilfreich sein kann, Toleranz für Inkonsistenz zu
entwickeln, da diese mit einer größeren Veränderungsbereitschaft
einherzugehen scheint. Auf jeden Fall rät er dazu, keinen
„Konsistenzdruck“ auszuüben.
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