Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Teil 6: Im Schatten des Bruders


Am nächsten Tag musste ich nämlich mit meinem Bruder (1.Schuljahr) in die Schule gehen. Mein Bruder schämte sich allerdings mit seiner kleinen Schwester und ich musste mindestens 10 m hinter ihm hergehen.

Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, da ich den Weg nicht kannte und er so schnell rannte (2 1/2 Jahre älter). Es war eine reine Jungenklasse. Der Lehrer war sehr nett, aber streng zu den Jungs, die auch oft verprügelt wurden. Der Lehrer sagte mir aber zum Glück, dass ich keine Angst haben brauchte, auch irgendwann an die Reihe zu kommen, da ich ja nichts angestellt hätte, wie manche Jungs. Ich musste den Rest des Schuljahres mit in diese Klasse gehen (vielleicht halbes Jahr, weiß nicht). Ich fand das eigentlich ganz interessant, konnte natürlich weder lesen noch schreiben, sondern mehr oder weniger nur zugucken oder zuhören, durfte mich auch nicht irgendwie beteiligen, sondern hatte still dort zu sitzen (traute mich auch nicht). Meinen Bruder durfte ich weiterhin nicht ansprechen und nur mit Abstand auf dem Schulweg gehen. Ich hatte natürlich in der Jungenklasse auch keinen Kontakt. Da ich noch nicht raus durfte hatte ich auch im Wohnviertel keinen Kontakt zu anderen Kindern.

Mein Bruder und ich durften nie Kinder mit nach Hause bringen. Als ich später Kontakt zu anderen Kindern hatte, erinnere ich mich, dass ich diesen Kontakt auch immer vorsichtig gestaltet habe, weil ich immer Angst(!) hatte vor der Frage, darf ich auch einmal zu dir kommen. Es ist aber irgendwie nie dazu gekommen, die Kinder spürten es wohl, dass ich nichts zurückgeben konnte oder wollte.

Diese Geschichte und viele andere sind mir heute, wie während meines ganzen Lebens immer wieder präsent.

Als mein Bruder eingeschult wurde, war sein großer Tag. Die ganze Familie war in einer Aufregung und freute sich (so schien es mir). Wir wohnten noch in..... in der Großfamilie. Mein Bruder wurde fein zurechtgemacht. Alle, sogar mein Vater, verabschiedeten sich morgens von ihm und wünschten ihm viel Glück für den ersten Schultag. Er erhielt eine große Schultüte mit Leckereien und eine Glückwunschkarte mit einem lustigen Bild zum ersten Schultag. Er nahm beides schüchtern und stolz mit in die Schule, wohin meine Mutter ihn brachte, eine zeitlang mit dort blieb und auch wieder mit ihm zurückkam. Meine Mutter schien mir auch freudig-aufgeregt, setzte man doch in ihn als erstgeborenem Sohn große Erwartungen. Mein Bruder war nach Aussagen meiner Mutter zerbrechlich und sensibel. Man ließ sich deswegen mit der Einschulung auch Zeit. Er war bereits 7 Jahre alt. Die Schule war ein schöner alter roter Backsteinbau in unserem Viertel in der Nähe. Ich schlich (mein Bruder wollte leider nicht, dass ich ihn abhole) oft um die Schule herum, sie gefiel mir. Schule musste ja soo schön sein, und ich ersehnte den Tag, an dem auch ich eingeschult, soviel Beachtung bekommen würde und vor allen Dingen eine so schöne Schultüte mit leckeren Sachen drin. Ich sollte nur noch ein Jahr warten. Ich galt wie meine Mutter immer wieder betonte als stark und robust und wurde mit knapp 6 Jahren eingeschult.

Teil 7: Kein Verlass - weder auf Mensch noch auf Gefühl

Doch es sollte anders kommen. Den gemütlichen roten Backsteinbau sollte ich nicht von innen kennen lernen. Wir zogen ja dann um in die Wohnung in Ehrenfeld, d.h. mein Bruder musste die Schule wechseln, die ich ja dann später auch in seiner Klasse kennen- lernte.

Meine Eltern stritten sich schon wochenlang vor meinem ersten Schultag, wer mich in die Schule bringen sollte. Meine Mutter wollte nicht, mein Vater wäre jetzt mal dran, außerdem müsste sie arbeiten. Mein Vater sagte, er könne auch nicht, weil er arbeiten müsse. Es war eine Qual, hatte ich doch Sorge (Angst?), ich käme nicht wie alle Kinder in die (von mir geliebte) Schule.

Der Streit dauerte auch tatsächlich bis zum Einschulungstag, es war bis zum Schluss nichts geklärt. Ich hatte Angst vor dem Tag.

An diesem Tag weckte mich nicht - wie gewohnt - meine Mutter, sie war weg!!! Mein Vater weckte mich - ich konnte seine Wut und Verärgerung förmlich spüren. Er kleidete mich unwirsch an, kämmte mich - wie ich es nicht gewohnt war, alles nach hinten ohne Pony - und fuhr mich zur Schule. Ich fühlte mich nicht nur wegen meines ungewohnten 'Outfits' sehr unwohl. Komischerweise hatte mir bis jetzt noch niemand gratuliert. Die Schultüte konnte ich auch noch nicht sehen, aber die hatte mein Vater ja sicher im Auto. Mein Vater brachte mich zur Klasse, er hatte keine Schultüte dabei. Ich schämte mich so sehr und war sehr traurig, es schien als hätte ich als Einzige von ca. 30 Mädchen keine Schultüte und die brauchte man doch so dringend für das Einschulungsfoto. Zum Glück hatten die Lehrerin nach einiger Zeit eine Schultüte organisiert, so dass es nicht so stark auffiel. Allerdings war ich enttäuscht, dass gar keine Leckereien drin waren. Aber wenigsten hatte ich zum Schein etwas.

Mein Vater sagte noch, du musst jetzt alleine in die Klasse gehen, aber wenn irgendetwas ist, kommst du raus, ich warte hier auf Dich. Ich machte, was er gesagt hat, da der Unterricht anfing.

Natürlich war auch irgendetwas. Meine Lehrerin erwartete nämlich plötzlich von uns, wir sollten sitzen bleiben, ruhig sein etc., wie das halt so ist. Aber sie war nicht streng genug. Als ich es dann nicht machte, schimpfte sie mit mir. Ich fing an zu heulen, rannte raus und wollte zu meinem Vater, dass er mir hilft. Aber mein Vater war nicht da, er war weg.

Ich war entsetzt! Meine Lehrerin tröstete mich daraufhin. Sie war immer sehr nett zu mir.

Teil 8: Vom frühen Erwachsensein

Ich nehme an, dass meine Mutter mich dann später von der Schule abgeholt hat. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch, dass mich meine Mutter am nächsten Tag in die Schule bringen wollte. Ich verweigerte es ihr aber. Ich wollte nicht, dass irgendeiner von den beiden mich noch einmal in die Schule bringt. So klein, wie ich war, ich hatte mich - nachdem meine Mutter sich anfänglich sträubte, (was sollen die Leute denken?) - durchgesetzt. Vielleicht wollte meine Mutter etwas wieder gut machen oder sie hatte vergessen, dass ich den Schulweg bereits kannte, darum ging es ja auch gar nicht. Am ersten Schultag wäre es wichtig gewesen, aber von nun an ging ich alleine in die Schule. Ein trauriger Erfolg, aber ich war stolz darauf, dass meine Mutter nach einiger Zeit begriff, dass ich nicht von ihr in die Schule gebracht werden wollte. Ich kannte ja zum Glück auch den Schulweg, da ich ja schon länger mit meinem Bruder in die Schule ging.

Unglücklich genoss ich meine erstes Unabhängigkeitsgefühl von diesen! Eltern und versuchte mich so weit es ging von nun an von ihnen abzukapseln und innerlich zu lösen.

Ich glaube, ich witterte damals, die Schule war meine Chance!

Ich kann nicht abschätzen, ob ich bei den Geschichten vielleicht irgendetwas hinzudichte oder übertreibe, ich glaube es aber eigentlich nicht, jedenfalls habe ich so alles in Erinnerung.

Teil 9: Vom Verlust der Achtung und dem Mangel an Beziehungsvorbild

Ich möchte nicht verschweigen, dass es auch schöne Momente, vielleicht sogar Zeiten gab. Wenn wir sonntags auf einem Ausflug waren, oder innerhalb des Urlaubs Fahrten in kleine Städtchen unternahmen, oder bei Verwandtenbesuchen in das alte Haus. Es konnten durchaus auch Glücksgefühle oder Anflüge von Geborgensein aufkommen. Wir Kinder freuten uns, wenn unsere Eltern in guter Stimmung waren und wünschten uns, dass es immer so bleiben könnte. Wenn sich das 'Elterngewitter' entladen hatte, war meistens für ein paar Tage Ruhe und wir lernten, diese Zeit ansatzweise zu genießen, lebten aber andererseits immer in der Angst(!), dass es wieder losgehen könnte. Am Anfang hatten wir noch die Hoffnung, dass die erbitterten Streits meiner Eltern sich für immer legen würden. Aber im Laufe der Zeit, nach immer härter werdenden Auseinandersetzungen, gaben wir die Hoffnung auf und wussten, nach einer gewissen Ruhezeit würde es mit Sicherheit wieder losgehen, es war nur die Frage, wann?

Bei den Konflikten meiner Eltern ging es im Wesentlichen immer um das Gleiche. Meine Mutter warf meinem Vater vor, dass er zu wenig zu Hause sei, sie fühlte sich mit der Versorgung der Kinder alleine gelassen. Außerdem fand sie schon einmal Kinokarten etc. in seinen Taschen, sie vermutete er ginge fremd.

Mein Vater wehrte sich, sie würde spinnen, er müsse halt viel arbeiten, um die Familie zu ernähren und im Übrigen gönne er sich dann auch mal einen Schwimmbad oder Kinobesuch mit Freunden! Aber meine Mutter konnte nicht weg wegen uns!

Man muss sich das so vorstellen, wenn mein Vater abends zur Türe hereinkam, wurde er sofort schreiend mit Vorwürfen überhäuft.

Zunächst antwortete er noch ruhig, versuchte alles zu entkräften, aber die Vorwürfe und das Gezetere meiner Mutter wurde immer schlimmer, bis auch er schrie und ihr hysterisches Verhalten vorwarf. Alles in unserer Gegenwart. Es war uns immer sehr peinlich, so etwas mitzuerleben, und wir hatten Angst (!), was jetzt wieder alles passieren würde. Der erste Streit dieser Art, an den ich mich als kleines Kind erinnere, endete damit, dass mein Vater am Essenstisch mit der Faust in den Teller schlug. Das Spiegelei mit dem Spinat hing an der Wand, der Teller flog durch die Luft. Wir erschraken uns sehr.

Die Auseinandersetzungen wurden mit der Zeit heftiger. Ich erzählte ja bereits, dass mein Vater einmal meine Mutter mit dem Kopf zuerst durch einen langen Flur warf.

Oder mein Vater hatte meine Mutter so gestoßen, dass sie auf einem Klappstuhl zusammenbrach. Der Finger war dazwischen. Sie behauptete, er wäre ab (was gar nicht stimmte) und ging mit dem Küchenmesser auf meinen Vater los. Der wehrte sie dann prügelnd ab.

Ich lebte in der Vorstellung, irgendwann einmal den Unfallwagen holen zu müssen, wusste aber nicht, wie ich das anstellen sollte, weil ich weder zur Nachbarin durfte, noch zur Vermieterin und auch nicht ans Telefon.

Morgens war es oft so, dass meine Mutter blaue Flecken, oder ein blaues Auge hatte. Auf meine Nachfragen hin, erzählte sie mir, dass sie im Bad ausgerutscht wäre und auf den Beckenrand der Badewanne geschlagen ist, das kam mir schon damals komisch vor, konnte es mir aber nicht anders zusammenreimen. Heute weiß ich natürlich, dass es anders war.

Wenn wir bei Auseinandersetzungen dabei waren, sollten wir immer irgend etwas bezeugen: Du bist Zeuge, du hast das gehört, wer hat jetzt recht, u.s.w. Wir hüteten uns allerdings, irgendjemand- dem Recht zu geben. Wir fanden sie auch beide schlimm. Hatte meine Mutter vielleicht sachlich recht, das merkten wir schon als kleine Kinder, so fanden wir die Vorgehensweise meiner Mutter unmöglich. So konnte man keinen Menschen behandeln und von meinem Vater ganz zu schweigen, so darf sich kein Mann benehmen. Wir hatten allerdings ein gewisses Verständnis dafür, dass er Ruhe herstellen wollte.

Es war ja immer das gleiche Schema. Langsam über Tage anschwellende Auseinandersetzungen, Vorwürfe, Schreierei, Eskalation, Gewalt, aber danach war interessanterweise Ruhe. Wohltuende Ruhe für alle.

Meine Vater verließ danach immer das Haus, er schämte sich wohl. Meine Mutter räumte danach noch manchmal stundenlang heulend auf und wollte nicht, dass ich ihr dabei helfe. Ich glaube, sie suhlte sich in ihrem Leid.

Wir hatten ein schlechtes Gewissen, aber nach und nach verachteten wir unsere Eltern für ihr Verhalten.

Aus irgendwelchen Gründen fällt es mir schwer, mir einzugestehen, dass ich wahrscheinlich früher viele unverarbeitete Angstgefühle hatte, oder nicht? Ich hielt mich immer für unerschrocken und dachte auch alles gut hinter mich gebracht zu haben.

Teil 10: Erste Schritte in neue Möglichkeiten - Heilung durch Versöhnung

Im Moment versuche ich nachzuvollziehen, was ich als Kind wohl empfunden habe. Z.B. schlafe ich normalerweise nicht gerne allzu dunkel. Vor ein paar Tagen habe ich jedoch das dunkle Rollo ganz herunter gezogen und es war sehr dunkel im Raum. Und prompt stellte sich bei mir eine leichte Panikattacke und Angstgefühl ein, und die Erinnerung an die dunkle Waschküche mit den Steinwänden und dem grauen Steinfußboden ermächtigte sich meiner. Ich versuche jetzt, dass dunkle Schlafen zu üben. Es geht auch schon, und ich fange an, es schöner zu finden, da man erholter schlafen kann. (Neonleuchten scheinen in mein Zimmer!)

Viele der Kindheitsbilder erreichen mich im Moment auch tagsüber.

Ich habe schon früh erkannt, dass meine Eltern nicht 'schuld' im eigentlichen Sinne an meiner Kindheitssituation sind. Sie sind auch nur Kinder ihrer Zeit und ihrer Gefühle, und Liebe kann man nicht erzwingen! Es würde mir auch gar nichts nützen, wenn irgendeiner Schuld hat, sondern es kann sich ja nur etwas ändern, wenn man selbst etwas ändert, deswegen ist die Frage nach der Schuld überflüssig. Ich bin deswegen auch sehr früh (mit 16) von zuhause ausgezogen. Aber, was ist mit den Gefühlen?

Wie kann man das verarbeiten? Ich weiß es nicht?