Am nächsten Tag musste ich nämlich mit meinem Bruder (1.Schuljahr) in die
Schule gehen. Mein Bruder schämte sich allerdings mit seiner kleinen
Schwester und ich musste mindestens 10 m hinter ihm hergehen.
Ich hatte Angst, ihn zu verlieren, da ich den Weg
nicht kannte und er so schnell rannte (2 1/2 Jahre älter). Es war eine
reine Jungenklasse. Der Lehrer war sehr nett, aber streng zu den Jungs,
die auch oft verprügelt wurden. Der Lehrer sagte mir aber zum Glück, dass
ich keine Angst haben brauchte, auch irgendwann an die Reihe zu kommen, da
ich ja nichts angestellt hätte, wie manche Jungs. Ich musste den Rest des
Schuljahres mit in diese Klasse gehen (vielleicht halbes Jahr, weiß
nicht). Ich fand das eigentlich ganz interessant, konnte natürlich weder
lesen noch schreiben, sondern mehr oder weniger nur zugucken oder zuhören,
durfte mich auch nicht irgendwie beteiligen, sondern hatte still dort zu
sitzen (traute mich auch nicht). Meinen Bruder durfte ich weiterhin nicht
ansprechen und nur mit Abstand auf dem Schulweg gehen. Ich hatte natürlich
in der Jungenklasse auch keinen Kontakt. Da ich noch nicht raus durfte
hatte ich auch im Wohnviertel keinen Kontakt zu anderen Kindern.
Mein Bruder und ich durften nie Kinder mit nach
Hause bringen. Als ich später Kontakt zu anderen Kindern hatte, erinnere
ich mich, dass ich diesen Kontakt auch immer vorsichtig gestaltet habe,
weil ich immer Angst(!) hatte vor der Frage, darf ich auch einmal zu dir
kommen. Es ist aber irgendwie nie dazu gekommen, die Kinder spürten es
wohl, dass ich nichts zurückgeben konnte oder wollte.
Diese Geschichte und viele andere sind mir heute,
wie während meines ganzen Lebens immer wieder präsent.
Als mein Bruder eingeschult wurde, war sein großer
Tag. Die ganze Familie war in einer Aufregung und freute sich (so schien
es mir). Wir wohnten noch in..... in der Großfamilie. Mein Bruder
wurde fein zurechtgemacht. Alle, sogar mein Vater, verabschiedeten sich
morgens von ihm und wünschten ihm viel Glück für den ersten Schultag. Er
erhielt eine große Schultüte mit Leckereien und eine Glückwunschkarte mit
einem lustigen Bild zum ersten Schultag. Er nahm beides schüchtern und
stolz mit in die Schule, wohin meine Mutter ihn brachte, eine zeitlang mit
dort blieb und auch wieder mit ihm zurückkam. Meine Mutter schien mir auch
freudig-aufgeregt, setzte man doch in ihn als erstgeborenem Sohn große
Erwartungen. Mein Bruder war nach Aussagen meiner Mutter zerbrechlich und
sensibel. Man ließ sich deswegen mit der Einschulung auch Zeit. Er war
bereits 7 Jahre alt. Die Schule war ein schöner alter roter Backsteinbau
in unserem Viertel in der Nähe. Ich schlich (mein Bruder wollte leider
nicht, dass ich ihn abhole) oft um die Schule herum, sie gefiel mir.
Schule musste ja soo schön sein, und ich ersehnte den Tag, an dem auch ich
eingeschult, soviel Beachtung bekommen würde und vor allen Dingen eine so
schöne Schultüte mit leckeren Sachen drin. Ich sollte nur noch ein Jahr
warten. Ich galt wie meine Mutter immer wieder betonte als stark und
robust und wurde mit knapp 6 Jahren eingeschult.
Teil 7: Kein Verlass - weder auf Mensch noch auf
Gefühl
Doch es sollte anders kommen. Den gemütlichen roten
Backsteinbau sollte ich nicht von innen kennen lernen. Wir zogen ja dann
um in die Wohnung in Ehrenfeld, d.h. mein Bruder musste die Schule
wechseln, die ich ja dann später auch in seiner Klasse kennen- lernte.
Meine Eltern stritten sich schon wochenlang vor
meinem ersten Schultag, wer mich in die Schule bringen sollte. Meine
Mutter wollte nicht, mein Vater wäre jetzt mal dran, außerdem müsste sie
arbeiten. Mein Vater sagte, er könne auch nicht, weil er arbeiten müsse.
Es war eine Qual, hatte ich doch Sorge (Angst?), ich käme nicht wie alle
Kinder in die (von mir geliebte) Schule.
Der Streit dauerte auch tatsächlich bis zum
Einschulungstag, es war bis zum Schluss nichts geklärt. Ich hatte Angst
vor dem Tag.
An diesem Tag weckte mich nicht - wie gewohnt -
meine Mutter, sie war weg!!! Mein Vater weckte mich - ich konnte seine Wut
und Verärgerung förmlich spüren. Er kleidete mich unwirsch an, kämmte mich
- wie ich es nicht gewohnt war, alles nach hinten ohne Pony - und fuhr
mich zur Schule. Ich fühlte mich nicht nur wegen meines ungewohnten
'Outfits' sehr unwohl. Komischerweise hatte mir bis jetzt noch niemand
gratuliert. Die Schultüte konnte ich auch noch nicht sehen, aber die hatte
mein Vater ja sicher im Auto. Mein Vater brachte mich zur Klasse, er hatte
keine Schultüte dabei. Ich schämte mich so sehr und war sehr traurig, es
schien als hätte ich als Einzige von ca. 30 Mädchen keine Schultüte und
die brauchte man doch so dringend für das Einschulungsfoto. Zum Glück
hatten die Lehrerin nach einiger Zeit eine Schultüte organisiert, so dass
es nicht so stark auffiel. Allerdings war ich enttäuscht, dass gar keine
Leckereien drin waren. Aber wenigsten hatte ich zum Schein etwas.
Mein Vater sagte noch, du musst jetzt alleine in die
Klasse gehen, aber wenn irgendetwas ist, kommst du raus, ich warte hier
auf Dich. Ich machte, was er gesagt hat, da der Unterricht anfing.
Natürlich war auch irgendetwas. Meine Lehrerin
erwartete nämlich plötzlich von uns, wir sollten sitzen bleiben, ruhig
sein etc., wie das halt so ist. Aber sie war nicht streng genug. Als ich
es dann nicht machte, schimpfte sie mit mir. Ich fing an zu heulen, rannte
raus und wollte zu meinem Vater, dass er mir hilft. Aber mein Vater war
nicht da, er war weg.
Ich war entsetzt! Meine Lehrerin tröstete mich
daraufhin. Sie war immer sehr nett zu mir.
Teil 8: Vom frühen Erwachsensein
Ich nehme an, dass meine Mutter mich dann später von
der Schule abgeholt hat. Ich weiß es nicht mehr. Ich erinnere mich nur
noch, dass mich meine Mutter am nächsten Tag in die Schule bringen wollte.
Ich verweigerte es ihr aber. Ich wollte nicht, dass irgendeiner von den
beiden mich noch einmal in die Schule bringt. So klein, wie ich war, ich
hatte mich - nachdem meine Mutter sich anfänglich sträubte, (was sollen
die Leute denken?) - durchgesetzt. Vielleicht wollte meine Mutter etwas
wieder gut machen oder sie hatte vergessen, dass ich den Schulweg bereits
kannte, darum ging es ja auch gar nicht. Am ersten Schultag wäre es
wichtig gewesen, aber von nun an ging ich alleine in die Schule. Ein
trauriger Erfolg, aber ich war stolz darauf, dass meine Mutter nach
einiger Zeit begriff, dass ich nicht von ihr in die Schule gebracht werden
wollte. Ich kannte ja zum Glück auch den Schulweg, da ich ja schon länger
mit meinem Bruder in die Schule ging.
Unglücklich genoss ich meine erstes
Unabhängigkeitsgefühl von diesen! Eltern und versuchte mich so weit es
ging von nun an von ihnen abzukapseln und innerlich zu lösen.
Ich glaube, ich witterte damals, die Schule war
meine Chance!
Ich kann nicht abschätzen, ob ich bei den
Geschichten vielleicht irgendetwas hinzudichte oder übertreibe, ich glaube
es aber eigentlich nicht, jedenfalls habe ich so alles in Erinnerung.
Teil 9: Vom Verlust der Achtung und dem Mangel an
Beziehungsvorbild
Ich möchte nicht verschweigen, dass es auch schöne
Momente, vielleicht sogar Zeiten gab. Wenn wir sonntags auf einem Ausflug
waren, oder innerhalb des Urlaubs Fahrten in kleine Städtchen unternahmen,
oder bei Verwandtenbesuchen in das alte Haus. Es konnten durchaus auch
Glücksgefühle oder Anflüge von Geborgensein aufkommen. Wir Kinder freuten
uns, wenn unsere Eltern in guter Stimmung waren und wünschten uns, dass es
immer so bleiben könnte. Wenn sich das 'Elterngewitter' entladen hatte,
war meistens für ein paar Tage Ruhe und wir lernten, diese Zeit
ansatzweise zu genießen, lebten aber andererseits immer in der Angst(!),
dass es wieder losgehen könnte. Am Anfang hatten wir noch die Hoffnung,
dass die erbitterten Streits meiner Eltern sich für immer legen würden.
Aber im Laufe der Zeit, nach immer härter werdenden Auseinandersetzungen,
gaben wir die Hoffnung auf und wussten, nach einer gewissen Ruhezeit würde
es mit Sicherheit wieder losgehen, es war nur die Frage, wann?
Bei den Konflikten meiner Eltern ging es im
Wesentlichen immer um das Gleiche. Meine Mutter warf meinem Vater vor,
dass er zu wenig zu Hause sei, sie fühlte sich mit der Versorgung der
Kinder alleine gelassen. Außerdem fand sie schon einmal Kinokarten etc. in
seinen Taschen, sie vermutete er ginge fremd.
Mein Vater wehrte sich, sie würde spinnen, er müsse
halt viel arbeiten, um die Familie zu ernähren und im Übrigen gönne er
sich dann auch mal einen Schwimmbad oder Kinobesuch mit Freunden! Aber
meine Mutter konnte nicht weg wegen uns!
Man muss sich das so vorstellen, wenn mein Vater
abends zur Türe hereinkam, wurde er sofort schreiend mit Vorwürfen
überhäuft.
Zunächst antwortete er noch ruhig, versuchte alles
zu entkräften, aber die Vorwürfe und das Gezetere meiner Mutter wurde
immer schlimmer, bis auch er schrie und ihr hysterisches Verhalten
vorwarf. Alles in unserer Gegenwart. Es war uns immer sehr peinlich, so
etwas mitzuerleben, und wir hatten Angst (!), was jetzt wieder alles
passieren würde. Der erste Streit dieser Art, an den ich mich als kleines
Kind erinnere, endete damit, dass mein Vater am Essenstisch mit der Faust
in den Teller schlug. Das Spiegelei mit dem Spinat hing an der Wand, der
Teller flog durch die Luft. Wir erschraken uns sehr.
Die Auseinandersetzungen wurden mit der Zeit
heftiger. Ich erzählte ja bereits, dass mein Vater einmal meine Mutter mit
dem Kopf zuerst durch einen langen Flur warf.
Oder mein Vater hatte meine Mutter so gestoßen, dass
sie auf einem Klappstuhl zusammenbrach. Der Finger war dazwischen. Sie
behauptete, er wäre ab (was gar nicht stimmte) und ging mit dem
Küchenmesser auf meinen Vater los. Der wehrte sie dann prügelnd ab.
Ich lebte in der Vorstellung, irgendwann einmal den
Unfallwagen holen zu müssen, wusste aber nicht, wie ich das anstellen
sollte, weil ich weder zur Nachbarin durfte, noch zur Vermieterin und auch
nicht ans Telefon.
Morgens war es oft so, dass meine Mutter blaue
Flecken, oder ein blaues Auge hatte. Auf meine Nachfragen hin, erzählte
sie mir, dass sie im Bad ausgerutscht wäre und auf den Beckenrand der
Badewanne geschlagen ist, das kam mir schon damals komisch vor, konnte es
mir aber nicht anders zusammenreimen. Heute weiß ich natürlich, dass es
anders war.
Wenn wir bei Auseinandersetzungen dabei waren,
sollten wir immer irgend etwas bezeugen: Du bist Zeuge, du hast das
gehört, wer hat jetzt recht, u.s.w. Wir hüteten uns allerdings,
irgendjemand- dem Recht zu geben. Wir fanden sie auch beide schlimm. Hatte
meine Mutter vielleicht sachlich recht, das merkten wir schon als kleine
Kinder, so fanden wir die Vorgehensweise meiner Mutter unmöglich. So
konnte man keinen Menschen behandeln und von meinem Vater ganz zu
schweigen, so darf sich kein Mann benehmen. Wir hatten allerdings ein
gewisses Verständnis dafür, dass er Ruhe herstellen wollte.
Es war ja immer das gleiche Schema. Langsam über
Tage anschwellende Auseinandersetzungen, Vorwürfe, Schreierei, Eskalation,
Gewalt, aber danach war interessanterweise Ruhe. Wohltuende Ruhe für alle.
Meine Vater verließ danach immer das Haus, er
schämte sich wohl. Meine Mutter räumte danach noch manchmal stundenlang
heulend auf und wollte nicht, dass ich ihr dabei helfe. Ich glaube, sie
suhlte sich in ihrem Leid.
Wir hatten ein schlechtes Gewissen, aber nach und
nach verachteten wir unsere Eltern für ihr Verhalten.
Aus irgendwelchen Gründen fällt es mir schwer, mir
einzugestehen, dass ich wahrscheinlich früher viele unverarbeitete
Angstgefühle hatte, oder nicht? Ich hielt mich immer für unerschrocken und
dachte auch alles gut hinter mich gebracht zu haben.
Teil 10: Erste Schritte in neue Möglichkeiten -
Heilung durch Versöhnung
Im Moment versuche ich nachzuvollziehen, was ich als
Kind wohl empfunden habe. Z.B. schlafe ich normalerweise nicht gerne allzu
dunkel. Vor ein paar Tagen habe ich jedoch das dunkle Rollo ganz herunter
gezogen und es war sehr dunkel im Raum. Und prompt stellte sich bei mir
eine leichte Panikattacke und Angstgefühl ein, und die Erinnerung an die
dunkle Waschküche mit den Steinwänden und dem grauen Steinfußboden
ermächtigte sich meiner. Ich versuche jetzt, dass dunkle Schlafen zu üben.
Es geht auch schon, und ich fange an, es schöner zu finden, da man
erholter schlafen kann. (Neonleuchten scheinen in mein Zimmer!)
Viele der Kindheitsbilder erreichen mich im Moment
auch tagsüber.
Ich habe schon früh erkannt, dass meine Eltern nicht
'schuld' im eigentlichen Sinne an meiner Kindheitssituation sind. Sie sind
auch nur Kinder ihrer Zeit und ihrer Gefühle, und Liebe kann man nicht
erzwingen! Es würde mir auch gar nichts nützen, wenn irgendeiner Schuld
hat, sondern es kann sich ja nur etwas ändern, wenn man selbst etwas
ändert, deswegen ist die Frage nach der Schuld überflüssig. Ich bin
deswegen auch sehr früh (mit 16) von zuhause ausgezogen. Aber, was ist mit
den Gefühlen?
Wie kann man das verarbeiten? Ich weiß es nicht?
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