Irgendwann - vielleicht so ab
meinem 10. Lebensjahr - fingen die Rollen innerhalb meiner Familie -
glaube ich - langsam an sich umzutauschen.
Mein älterer Bruder wirkte hilflos und schwach auf mich ebenso wie meine
Mutter. Meine Mutter, die entweder vorwurfsvoll-hysterisch auf meinen
Vater einschrie, weil sie sich vernachlässigt fühlte oder tagelang heulte
und schluchzte, wenn er weg war, tat mir sehr leid. Ich sah wie abhängig
sie war und wollte sie darin unterstützen, sich mehr auf sich zu
konzentrieren bzw. ihren Bedürfnissen nachzugehen, denn in gewisser
Hinsicht opferte sie sich für uns auf. Sie ging z.B. nie alleine weg. Ich
versuchte ihr von den Augen abzulesen, was sie glücklicher machen könnte
oder schlug ihr Dinge vor, die sie selbständig machen könnte. Sie sollte
einmal nur an sich denken, aber es ging ja nicht, sie hatte ja uns!
Je älter ich wurde, desto mehr kümmerte ich mich um
sie. Ich bestärkte sie darin, dass sie den Führerschein machte bzw.
Schreibmaschinen- und Englischkurse in der VHS besuchte. Meine Mutter war
sehr unsicher und hatte bei allem Angst, etwas selbständig zu machen. Es
war immer ein sehr großer Angang und bedurfte meiner ganzen
Überredungskunst. Auch mein Bruder unterstützte sie darin.
Sie traute es sich nicht zu, sich von meinem Vater
zu trennen, da sie nicht wusste, wie es alleine als Frau weitergehen
sollte.
Ich dachte, wenn Sie Kurse besucht hat, kann sie
vielleicht auch ohne Lehre auf dem Büro arbeiten und sich von meinem Vater
lösen und braucht sich nicht mehr schlagen zu lassen.
Nach und nach verlor meine Mutter die Angst vor der
Unabhängigkeit.
Als ich im Studium war, besorgte ich ihr die erste
Arbeitsstelle. Die Firma bei der ich zur Aushilfe gearbeitet hatte, suchte
eine zuverlässige langfristige Angestellte. Ich redete tagelang auf meine
Mutter ein, bis sie sich endlich dort bewarb.
Nachdem meine Mutter von meinem Vater geschieden
war, jammerte sie oft, dass sie aufgrund ihres jetzigen Berufes sehr wenig
Rente bekommen würde, da sie auf alle Ansprüche meinem Vater gegenüber
verzichtet hatte. Ich fand den Verdienst eigentlich gar nicht so schlecht,
da sie aber bei jedem Familientreffen über ihre finanzielle Situation
klagte - auch weil sie zu unsicher sei -,besorgte ich ihr über Freunde
eine Stelle im öffentlichen Dienst.
So hielt sie mich immer in Atem, sie beunruhigte
mich oft, dass es ihr zu schlecht ginge. Auch ängstigte sie mich oft mit
angeblichen Krankheiten, die sich aber glücklicherweise immer als nicht so
schlimm herausstellten.
Ich konnte das Gejammere und Geschluchze oft fast
nicht aushalten und fühlte mich oft verantwortlich für sie.
Mein Bruder kam mir sehr verzweifelt und
geistesabwesend vor. Er schottete sich von der Welt ab, ließ vieles über
sich ergehen. Er schaltete einfach ab und galt als Tagträumer.
Ich dagegen wollte hellwach sein, da es mir sonst
alles zu gefährlich vorkam und mir keiner helfen konnte. Mein Vater war
nicht da und auf meine Mutter und Bruder, die sich auch oft sehr stritten,
war kein Verlass, da sie zu sehr mit sich beschäftigt waren.
Ich machte mir Sorgen um meinen Bruder, der früher
im Elternhaus oft eigentümlich wirkte.
Obwohl ich die kleinere Schwester war, fühlte ich
mich gefühlsmäßig auch manchmal für ihn verantwortlich. (Später
normalisierte sich aus meiner Sicht, das Verhältnis zu meinem Bruder und
er war in vielerlei Hinsicht eine Stütze für mich. Er erzählt mir aber
heute noch, dass er mich nie als kleine Schwester gesehen hat.)
Als 'Kleinste' in der Familie hatte ich, so glaube
ich, den Vorteil, alles wie von einer höheren Warte aus zu sehen und auch
schon Rückschlüsse aus dem Verhalten der Familienmitglieder ziehen zu
können.
Alles Gezetere und Geschreie meiner Mutter nützte
nichts, auch das Kopf in den Sand stecken meines Bruders führte nicht zum
Ziel. Dafür waren beide zu unglücklich.
Mir wurde früh klar: Nur selbständiges Handeln
verbessert die Situation, was aber manchmal sehr schwer ist.
Ich wollte immer ein 'guter Mensch' werden. Als Kind
hatte ich das Ideal, Märtyrer zu werden.
Aber als ich im Konflikt mit meinen Eltern an meine
Grenzen kam und egoistisch meine Bedürfnisse durchsetzte - das hat mein
Bruder nie getan -, hatte ich das Gefühl, meine 'seelische Unschuld' zu
verlieren.
Ein Gedanke hat mir in der späteren Kindheit immer
sehr geholfen: Wenn ich mich zu sehr allein und unglücklich fühlte, dachte
ich daran, dass irgendwo bereits jemand ist, mit dem ich, wenn ich von
zuhause ausgezogen bin, zusammen leben werde.
Ich wusste, es gibt in schon, er lebt irgendwo und
ich versuchte mir vorzustellen, wie er aussieht, was er im Moment macht,
wer seine Eltern sind und was er für Interessen hat.
Abends vor dem Einschlafen malte ich mir aus, was
wir zusammen unternehmen und wie wir wohnen würden.
Der Gedanke, dass er auf jeden Fall existiert und
'für mich bestimmt ist', beruhigte und faszinierte mich zugleich, denn ich
war mir ganz sicher, es gibt auch für mich jemanden, ganz im Sinn von 'auf
jedes Töpfchen passt auch ein Deckelchen'.