Praxis für Psychosomatische Medizin u. Psychotherapie, Coaching, Mediation u. Prävention
Dr. Dr. med. Herbert Mück (51061 Köln)

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Teil 29: Vom großen kleinen Bruder
("Rollenumkehr")


Über sein Verhalten mir gegenüber war ich meinem Bruder eigentlich nie richtig böse, da ich ihn glaubte zu verstehen. Er hatte in vielerlei Hinsicht bei mir so eine Art Freibrief.

Er war mir auch nicht richtig böse, aber ich glaube allein meine Existenz war ein Ärgernis für ihn. Die wenige Liebe die in unserer Familie vorhanden war, konnte er nicht auch noch mit mir teilen. Er empfand mich wohl als Eindringling mit dem er konkurrieren musste.

Weder mein Bruder noch ich können uns erinnern, jemals viel Zärtlichkeiten meiner Eltern empfangen zu haben. Mein Bruder war in dieser Hinsicht schlimmer dran als ich. Wir können uns nicht erinnern, dass meine Mutter uns jemals in den Arm genommen oder über den Kopf gestrichen hätte. Aber ich wurde zumindest von meinem Vater - wenn er mal da war - in den Arm genommen und geknuddelt. Mein Bruder nicht, da ein Junge wohl nicht verwöhnt werden darf und von Mann zu Mann keine Zärtlichkeiten ausgetauscht werden dürfen.

Ob meine Mutter grundsätzlich nicht dazu in der Lage war oder ob sie zu uns ein gespaltenes Verhältnis hatte, weil sie - wie sie oft sagte - durch uns auf vieles verzichten musste und an ihrem Lebensweg entscheidend gehindert wurde, bleibt offen.

Meine Eltern ließen auch keine Gelegenheit aus, das geschwisterliche Konkurrenzverhältnis zu schüren. Es gab viele Anlässe, in denen meine Eltern betonten, wie toll ich in mancher Hinsicht war. Ich konnte bereits mit 9 Monaten laufen, mein Bruder saß angeblich noch mit 2 Jahren in der Ecke. Ich konnte früh sprechen und war ein sehr bewegliches Kind, während mein Bruder nach 2 Stunden immer noch da saß, wo man ihn abgesetzt hatte. Überhaupt sagten sie, ging in meiner Entwicklung alles schneller.

Immer wieder wurde auch folgende Geschichte erzählt:

Wir waren als Familie zusammen mit dem Motorrad und Beiwagen unterwegs. Mein Vater fuhr und rutschte bei starkem Regen einen Feldweg hinab. Das Motorrad kippte und begrub den Fuß des Vaters. Ich sprang vor lauter Angst sofort noch im Rutschen (ca.3-4 Jahre) aus dem Beiwagen und landete bei meinem Vater (den ich sehr liebte), um ihm zu helfen. Mein Bruder und meine Mutter saßen noch erschrocken an ihrem Platz. Dies wurde mir im Nachhinein immer als Mut ausgelegt. Meinem Bruder wurde seine Unbeweglichkeit bescheinigt.

So ging es sehr oft. Ich war die Fitte, mein Bruder der Behäbige. Einerseits schmeichelte mir das, aber es war mir auch peinlich meinem Bruder gegenüber, da es unseren Fähigkeiten mit Sicherheit nicht gerecht wurde.

Andererseits wurde mein Bruder in anderen Dingen immer hochgelobt. Einerseits etwas 'tollpatschig' sagte man ihm z. B. großes Talent im Schreiben bzw. Aufsatzformulierung nach.

Er war der Sensible, Feinsinnige, ich mehr fürs Unkomplizierte, Grobe zuständig.

Irgendwie hatte ich sehr früh den Eindruck, dass mein Bruder es schwerer hatte als ich. Er bekam noch weniger Zärtlichkeit als ich und sollte als Sohn Großartiges leisten. Ich hatte einerseits das Glück, dass ich durch die vielseitige Nichtbeachtung, da ich nur ein Mädchen war, in Ruhe gelassen wurde. Man erwartete gar nichts von mir, ich sollte eigentlich nur frühstmöglich heiraten. Das genoss ich einerseits zunehmend auch irgendwie, denn es entlastete mich und es gab mir die Möglichkeit des Eigenlebens. Ich konnte Distanz gewinnen und Nachdenken, bzw. von meiner Familie lösen.

Wenn ich auch im Nachhinein sagen muss, dass mein Bruder wohl finanziell vorgezogen worden ist, ('ein Junge braucht mehr, er muss ja später auch eine Familie ernähren und Freundinnen einladen oder eine Frau bezahlen'), z. B. hatte er schon das 3. Fahrrad verschlissen, ich noch nicht einmal das erste bekommen, oder er hatte kostspieligeres Spielzeug bekommen, neidete ich es ihm nie, denn ich dachte, er braucht mehr als ich.

Vom Oster- oder Weihnachtsteller bekam er immer etwas mit, weil ich sehr sparsam alles verbrauchte und immer etwas übrig hatte, wenn bei ihm schon alles leer war. Auch Taschengeld gab ich ihm ab, weil ich immer Geld übrig hatte. Obwohl mein Bruder auch von den Großeltern oder meinem Vater mehr zugesteckt bekam als ich (ein Mann braucht das!) gab ich ihm noch von mir ab, da ich immer spürte , er braucht mehr als ich.

Auch während des Studiums gab ich ihm monatlich Geld ab, da ich in einer Zeit als ich arbeiten ging und noch von einem ehemaligen Partner unterstützt wurde, etwas übrig hatte.

Ich konnte auch das Verhalten meines Bruders mir gegenüber verstehen, da er ja durch meinen Vater ein schlechtes Vorbild hatte. Er machte ihn nur nach. Ich störte ihn und er fühlte sich mir in mancherlei Hinsicht unterlegen, deswegen traktierte er mich. Andererseits schämte er sich auch aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins zu seiner kleinen Schwester zu stehen und griff zu dem abwertenden Verhalten und grobem Verhalten, dass er von meinem Vater gelernt hatte.

Die ganze Entwicklung führte dazu, dass ich meinen Bruder - auch weil er sich nicht rechtzeitig von unserem Elternhaus löste - nicht mehr so richtig ernst nahm. Als ich von zuhause auszog, wunderte ich mich, dass er noch bei meiner Mutter bleiben konnte. Er hatte es materiell weiterhin sehr gut, aber psychisch war er in einem sehr schlechten Zustand. Es ging ihm zumindest körperlich immer schlechter als mir. Er hatte oft Magenschmerzen, er krümmte sich dann auf dem Sofa, war oft wie weggetreten oder lachte wie irre. Ich habe ihm deswegen vieles Nachgesehen.

Obwohl er in mancherlei Hinsicht vielleicht vorgezogen wurde, ging es ihm glaube ich nicht wirklich besser als mir.

Irgendwann wurde mein Bruder zur Bundeswehr eingezogen und er wohnte nur noch sporadisch bei meiner Mutter. Nach der Bundeswehr hatte sich seine psychische Situation entschieden verbessert und auf seine Initiative hin intensivierte sich unser Kontakt wieder. Wir sprachen sehr viel über unsere Situation, zogen uns langsam gemeinsam nach oben und bestärkten uns darin, Abitur nachzumachen und zu studieren. Immer wieder sprachen wir über unsere gemeinsame Kindheitssituation und arbeiteten sie damit auf, von der Kindheit an bis heute.