Über sein Verhalten mir gegenüber
war ich meinem Bruder eigentlich nie richtig böse, da ich ihn glaubte zu
verstehen. Er hatte in vielerlei Hinsicht bei mir so eine Art Freibrief.
Er war mir auch nicht richtig böse, aber ich glaube
allein meine Existenz war ein Ärgernis für ihn. Die wenige Liebe die in
unserer Familie vorhanden war, konnte er nicht auch noch mit mir teilen.
Er empfand mich wohl als Eindringling mit dem er konkurrieren musste.
Weder mein Bruder noch ich können uns erinnern,
jemals viel Zärtlichkeiten meiner Eltern empfangen zu haben. Mein Bruder
war in dieser Hinsicht schlimmer dran als ich. Wir können uns nicht
erinnern, dass meine Mutter uns jemals in den Arm genommen oder über den
Kopf gestrichen hätte. Aber ich wurde zumindest von meinem Vater - wenn er
mal da war - in den Arm genommen und geknuddelt. Mein Bruder nicht, da ein
Junge wohl nicht verwöhnt werden darf und von Mann zu Mann keine
Zärtlichkeiten ausgetauscht werden dürfen.
Ob meine Mutter grundsätzlich nicht dazu in der Lage
war oder ob sie zu uns ein gespaltenes Verhältnis hatte, weil sie - wie
sie oft sagte - durch uns auf vieles verzichten musste und an ihrem
Lebensweg entscheidend gehindert wurde, bleibt offen.
Meine Eltern ließen auch keine Gelegenheit aus, das
geschwisterliche Konkurrenzverhältnis zu schüren. Es gab viele Anlässe, in
denen meine Eltern betonten, wie toll ich in mancher Hinsicht war. Ich
konnte bereits mit 9 Monaten laufen, mein Bruder saß angeblich noch mit 2
Jahren in der Ecke. Ich konnte früh sprechen und war ein sehr bewegliches
Kind, während mein Bruder nach 2 Stunden immer noch da saß, wo man ihn
abgesetzt hatte. Überhaupt sagten sie, ging in meiner Entwicklung alles
schneller.
Immer wieder wurde auch folgende Geschichte erzählt:
Wir waren als Familie zusammen mit dem Motorrad und
Beiwagen unterwegs. Mein Vater fuhr und rutschte bei starkem Regen einen
Feldweg hinab. Das Motorrad kippte und begrub den Fuß des Vaters. Ich
sprang vor lauter Angst sofort noch im Rutschen (ca.3-4 Jahre) aus dem
Beiwagen und landete bei meinem Vater (den ich sehr liebte), um ihm zu
helfen. Mein Bruder und meine Mutter saßen noch erschrocken an ihrem
Platz. Dies wurde mir im Nachhinein immer als Mut ausgelegt. Meinem Bruder
wurde seine Unbeweglichkeit bescheinigt.
So ging es sehr oft. Ich war die Fitte, mein Bruder
der Behäbige. Einerseits schmeichelte mir das, aber es war mir auch
peinlich meinem Bruder gegenüber, da es unseren Fähigkeiten mit Sicherheit
nicht gerecht wurde.
Andererseits wurde mein Bruder in anderen Dingen
immer hochgelobt. Einerseits etwas 'tollpatschig' sagte man ihm z. B.
großes Talent im Schreiben bzw. Aufsatzformulierung nach.
Er war der Sensible, Feinsinnige, ich mehr fürs
Unkomplizierte, Grobe zuständig.
Irgendwie hatte ich sehr früh den Eindruck, dass
mein Bruder es schwerer hatte als ich. Er bekam noch weniger Zärtlichkeit
als ich und sollte als Sohn Großartiges leisten. Ich hatte einerseits das
Glück, dass ich durch die vielseitige Nichtbeachtung, da ich nur ein
Mädchen war, in Ruhe gelassen wurde. Man erwartete gar nichts von mir, ich
sollte eigentlich nur frühstmöglich heiraten. Das genoss ich einerseits
zunehmend auch irgendwie, denn es entlastete mich und es gab mir die
Möglichkeit des Eigenlebens. Ich konnte Distanz gewinnen und Nachdenken,
bzw. von meiner Familie lösen.
Wenn ich auch im Nachhinein sagen muss, dass mein
Bruder wohl finanziell vorgezogen worden ist, ('ein Junge braucht mehr, er
muss ja später auch eine Familie ernähren und Freundinnen einladen oder
eine Frau bezahlen'), z. B. hatte er schon das 3. Fahrrad verschlissen,
ich noch nicht einmal das erste bekommen, oder er hatte kostspieligeres
Spielzeug bekommen, neidete ich es ihm nie, denn ich dachte, er braucht
mehr als ich.
Vom Oster- oder Weihnachtsteller bekam er immer
etwas mit, weil ich sehr sparsam alles verbrauchte und immer etwas übrig
hatte, wenn bei ihm schon alles leer war. Auch Taschengeld gab ich ihm ab,
weil ich immer Geld übrig hatte. Obwohl mein Bruder auch von den
Großeltern oder meinem Vater mehr zugesteckt bekam als ich (ein Mann
braucht das!) gab ich ihm noch von mir ab, da ich immer spürte , er
braucht mehr als ich.
Auch während des Studiums gab ich ihm monatlich Geld
ab, da ich in einer Zeit als ich arbeiten ging und noch von einem
ehemaligen Partner unterstützt wurde, etwas übrig hatte.
Ich konnte auch das Verhalten meines Bruders mir
gegenüber verstehen, da er ja durch meinen Vater ein schlechtes Vorbild
hatte. Er machte ihn nur nach. Ich störte ihn und er fühlte sich mir in
mancherlei Hinsicht unterlegen, deswegen traktierte er mich. Andererseits
schämte er sich auch aufgrund mangelnden Selbstbewusstseins zu seiner
kleinen Schwester zu stehen und griff zu dem abwertenden Verhalten und
grobem Verhalten, dass er von meinem Vater gelernt hatte.
Die ganze Entwicklung führte dazu, dass ich meinen
Bruder - auch weil er sich nicht rechtzeitig von unserem Elternhaus löste
- nicht mehr so richtig ernst nahm. Als ich von zuhause auszog, wunderte
ich mich, dass er noch bei meiner Mutter bleiben konnte. Er hatte es
materiell weiterhin sehr gut, aber psychisch war er in einem sehr
schlechten Zustand. Es ging ihm zumindest körperlich immer schlechter als
mir. Er hatte oft Magenschmerzen, er krümmte sich dann auf dem Sofa, war
oft wie weggetreten oder lachte wie irre. Ich habe ihm deswegen vieles
Nachgesehen.
Obwohl er in mancherlei Hinsicht vielleicht
vorgezogen wurde, ging es ihm glaube ich nicht wirklich besser als mir.
Irgendwann wurde mein Bruder zur Bundeswehr
eingezogen und er wohnte nur noch sporadisch bei meiner Mutter. Nach der
Bundeswehr hatte sich seine psychische Situation entschieden verbessert
und auf seine Initiative hin intensivierte sich unser Kontakt wieder. Wir
sprachen sehr viel über unsere Situation, zogen uns langsam gemeinsam nach
oben und bestärkten uns darin, Abitur nachzumachen und zu studieren. Immer
wieder sprachen wir über unsere gemeinsame Kindheitssituation und
arbeiteten sie damit auf, von der Kindheit an bis heute.