In meiner Familie wurden 'schwache Familienmitglieder' immer verächtlich
behandelt, gehänselt oder mit gehässigen Attributen versehen. Dies ging
hauptsächlich von meinem Vater aus, aber mein Bruder machte ihn m. E.
dabei sehr stark nach, meine Mutter steuerte manchmal dagegen war aber oft
auch 'neutral'.Mein Großvater
mütterlicherseits sollte eigentlich die Fabrik seines Vaters übernehmen,
setzte gegen den Willen seiner Eltern eine anderen Berufsweg durch, den er
aber nicht lange durchhielt. Er hatte starke künstlerische Ambitionen. Er
malte und war perfekt auf der Zither. Ich hörte ihm dabei sehr gerne zu.
Er hatte in meiner Erinnerung ein sehr feines, zurückhaltendes aber leider
auch zurückgezogenes Wesen, so dass ich ihn wenig sah.
Er wurde in seiner Ursprungsfamilie als 'schwarzes
Schaf' und in unserer Familie offiziell als Schwächling gehandelt. Denn er
hatte es zu nichts gebracht, war mittlerweile ohne regelmäßige Arbeit und
man sah ihn oft mit 'Freunden' zusammensitzen beim exzessiven Trinken und
Poker spielen. Er wirkte im Alltag sehr zerbrechlich - mit Alkohol anfangs
noch lustig, humorvoll und stark.
Es wurde zunehmend offensichtlich, dass mein
Großvater ein Problem mit dem Alkohol hatte. Wenn man vielleicht damals
auch nicht die Tragweite einer Alkoholsucht als Krankheit erkannte, so
hatte seine damalige Frau uns jedoch informiert, dass er auf Rat seiner
Ärzte keinen Tropfen Alkohol mehr trinken dürfte, da er ihn nicht
vertragen könnte und sonst noch mehr gesundheitliche Probleme bekäme.
Familientreffen mit meinem Großvater erlebe ich auch
im Nachhinein noch als sehr schmerzhaft, da er von meinem Vater in meiner
Erinnerung animiert wurde zu trinken. Ich habe meinen Vater noch nie
betrunken gesehen, er trank höchstens mal einen Schnaps zum Genuss (er
hatte kein Problem mit dem Alkohol!).
Wenn wir Sonntags nachmittags zu Besuch beim Kaffee
waren, bot mein Großvater meinem Vater meistens auch einen Schnaps an -
vielleicht aus Höflichkeit oder in der Hoffnung auch einen trinken zu
können. Mein Vater, der auch schon mal um einen Schnaps fragte, wenn er
keinen angeboten bekam, sagte dann jedes Mal, "trink doch Einen mit". Die
Frau meines Großvaters wollte das natürlich verhindern (galt daraufhin als
Hexe, die ihn bevormunden möchte), es gelang ihr aber nicht, weil mein Opa
zwar meistens länger mit sich kämpfte, aber der Versuchung dann nicht mehr
widerstehen konnte und auch einen Schnaps trank, bei dem es dann aber im
Gegensatz zu meinem Vater nicht blieb. Wenn wir dann um ungefähr 17.30 Uhr
gingen, hatte ich gefühlsmäßig immer den Eindruck, wir hinterließen ein
Schlachtfeld bzw. einen desolaten Zustand.
Mein Großvater wirkte aufgelöst, mein Vater nahm das
angeblich nicht wahr und war guter Dinge.
Anschließend gab es immer einen Heidenkrach zwischen
meinen Eltern - schon im Auto. Meine Mutter warf meinem Vater vor, er
könne meinen Großvater nicht leiden und er würde das alles extra machen.
Mein Vater lachte gehässig und verkündete: 'Der Schwächling müsse selbst
wissen, wann er etwas trinken könne und wann nicht, er zwinge ihn ja
nicht.'
Die Frau meines Großvaters versuchte diese
Familientreffen so gut sie konnte zu verhindern, es gelang ihr aber nicht
immer und zum Schluss krümmte mein Großvater sich vor Schmerzen, wenn er
nur den ersten Schluck Schnaps trank. Die Familientreffen waren dann
schnell beendet. (Mein Vater dann wieder im Auto: 'Der Jammerlappen
braucht ja nicht zu trinken').
Übrigens hielt mein Vater, der im Krieg bei der
Marine unter sehr harten Bedingungen 'gedient' hatte, auch deswegen meinen
Großvater für einen Feigling - wie er uns immer wieder sagte -, weil
dieser sich vor der Armee 'gedrückt' hätte. Es hieß, er wäre desertiert.
Ich fand das eigentlich aber sehr imponierend und auch mutig, sich dem
Befehl Hitlers widersetzt zu haben, was ja immerhin unter Todesstrafe
stand.
Die Frau meines Großvaters erlaubte nicht mehr, dass
wir uns sonntags trafen, der Kontakt schlief ein. Mein Großvater kam nicht
vom Alkohol los und starb mit 50 Jahren ( ich war ca.12 Jahre) an
Leberzirrhose trotz der aufopfernden Fürsorge und Begleitung seiner Frau,
die ihn bis zu seinem Tode aus Sorge vor uns abgeschottet hatte und dafür
natürlich mit gehässigen Bemerkungen von meinem Vater übersät wurde. Sie
hatte in unserer Familie keinen guten Stand. Ich konnte ihr Verhalten aber
sehr gut nachvollziehen.
Als weiteres 'schwarzes Schaf' in der Familie galt
meine Tante, die Schwester meines Vaters. Sie war 8 Jahre älter als er,
schon zweimal gescheitert verheiratet und führte nach Meinung der Familie
ein recht lockeres Leben. Bei Familientreffen sah ich meinen Vater nie mit
seiner Schwester kommunizieren. Entweder es gab im Hintergrund abschätzige
Bemerkungen oder es war Funkstille.
Meine Tante war manchmal lebenslustig manchmal
depressiv und kümmerte sich nicht sehr um ihre beiden Kinder. Meine
Cousine war aufgrund einer Rheumakrankheit stark behindert und da sie
intensiv betreut werden musste, wohnte sie schon lange im oberen Stockwerk
bei meiner Großmutter. Auch mit meiner Cousine wurde wenig gesprochen, sie
war auch nicht oft bei Familientreffen dabei.
Meine Tante war aufgrund ihres Verhaltens nicht gut
gelitten in der Familie, aber sie kümmerte sich nicht darum und ging
trotzig ihren Weg. Sie ging sehr verschwenderisch mit Geld um, obwohl sie
nur Gelegenheitsarbeiten übernahm und wahrscheinlich von Sozialhilfe
lebte.
Sie feierte gerne mit Alkohol und gutem Essen und
verbarrikadierte sich dafür oft 'mit Herrenbesuch' tagelang in Ihrer
Wohnung und keiner - noch nicht mal Ihr Sohn - durfte dann zu Ihr hinein.
Ich glaube mein Cousin war wirklich das ärmste
Sch.... in unserer Familie, denn in solchen Zeiten bekam er kein Essen von
meiner Tante und wurde auch sonst nicht richtig versorgt, weil meine Tante
ihn regelrecht rausschmiss. Er muss mitbekommen haben, dass seine Mutter
sich in der gleichen Zeit mit ihrem Herrenbesuch einiges gönnte. Mein
Cousin hing völlig in der Luft, wurde aber, wenn es zu schlimm war von
meiner Großmutter aufgefangen, die sich aber eigentlich nicht auch noch um
ihn kümmern wollte, da sie schon meine Cousine dauerhaft aufgenommen
hatte.
Ich mochte meinen Cousin, weil er nie aggressiv und
sehr gutmütig war. Mein Cousin war ca. 2 Jahre älter als mein Bruder,
wurde aber von ihm ständig wegen seines ungepflegten Aussehens gehänselt
und abschätzig behandelt. Er hatte Schulprobleme während meinem Bruder und
mir in der Schule alles (unverdient!) zuflog. Er blieb oft sitzen und
landete aufgrund seiner schlimmen Situation schließlich auf der sog.
Hilfsschule. Mein Bruder hielt ihn für dumm und behandelte ihn
dementsprechend herablassend. Er nahm ihn nicht ernst.(Immerhin hat mein
Cousin es in späteren Abendkursen in seinem Traumberuf bis zum
Elektrikermeister geschafft und führt bis heute selbständig einen
Handwerksbetrieb).
Mein Cousin wendete sich in seiner Not oft an meinen
Bruder und bat ihn um Hilfe in schulischen Dingen, da sie stofflich
ungefähr auf der gleichen Höhe waren. Mein Bruder erklärte ihm überheblich
z.B. das 'Wurzelziehen', und ließ meinen Cousin, der es nicht verstand,
immer wieder spüren, wie man nur so dumm sein kann so etwas Einfaches
nicht zu begreifen. Mein Bruder war immer sehr gehässig und aggressiv zu
meinem Cousin, aber dieser wehrte sich nie und war immer ausgleichend,
obwohl er viel größer war und stärker wirkte.
Es gab aber Situationen in denen er richtig böse
werden konnte. Wenn mein Bruder mich hänselte oder attackierte, drohte
mein Cousin meinem Bruder Prügel an, der mich daraufhin in dessen
Gegenwart in Ruhe ließ. Mein Cousin beschützte mich und das empfand ich
als sehr wohltuend, aber es klappte natürlich nur, wenn er anwesend war.
Auch mir gegenüber war mein Bruder oft gehässig,
vielleicht terrorisierte er mich sogar.
Er hänselte (ihh, nur ein Mädchen!) und ärgerte mich
oft. Wenn ich mit irgendetwas spielte, er es aber haben wollte, nahm er es
sich. Wenn ich nicht das tat, was er wollte, drehte er mir den Arm um, bis
ich mich vor Schmerzen fügte.
Wenn er mich überraschend festhielt und Juckpulver
oder Hagebutten in meinen Nacken streute, lachte er gehässig. Wenn ich vor
Unwohlsein und Jucken weinte, beschimpfte er mich als Heulsuse und
schwächliches Mädchen, dass bei jeder Gelegenheit weint. Er warnte mich
davor alles zu verpetzen. Ich tat es auch nicht - weil ich es
(fälschlicherweise!) als 'unehrenhaft' empfunden hätte.
Wenn meine Mutter es mir oder der Kleidung ansah,
was mir geschehen war und mit meinem Bruder schimpfte, behauptete er
nachher, ich hätte gepetzt, was von einem Mädchen ja nicht anders zu
erwarten wäre und ich fühlte mich weiterhin seinen Aggressionen und
Erniedrigungen ausgesetzt.
Oft hielt mein Bruder mich - anfänglich im Spiel -
fest, oder stützte seine Knie auf meine Innenschenkel der Beine (was sehr
schmerzhaft war) um mich z. B. zu Kitzeln, bis ich es nicht mehr aushalten
konnte. Er reagierte auch nicht, wenn ich schrie und ihn bat aufzuhören.
Er nutzte seine körperliche Überlegenheit mir gegenüber meistens aus. Ich
dachte eigentlich, es wäre normal, Brüder wären so, sah aber am Beispiel
meines Cousins, dass Ältere einen auch beschützen können. Er hat nie seine
körperliche Überlegenheit zu uns ausgenutzt hat, sondern höchstens einmal
die 'Notbremse' meinem Bruder gegenüber gezogen, das wurde ihm aber als
Dummheit ausgelegt.
In meiner Erinnerung wurde ich von meiner Familie
oft verlacht, wenn ich eine Empfindung - was selten genug vorkam - zeigte.
Ich fühlte mich in dieser Hinsicht nie vor Gehässigkeiten sicher, weder
vor meinem Bruder, aber auch nicht vor meinem Vater. Meine Mutter verhielt
sich in solchen Situationen neutral, kam mir also auch nicht zur Hilfe.
Ich erinnere mich besonders einprägsam an eine
Begebenheit am Gardasee. Ich war ja meistens beim Spielen alleine, hatte
aber endlich (vielleicht mit 12 Jahren) einen Jungen kennen gelernt mit
dem ich mich sehr gut verstand und stundenlang spielen konnte. Wir waren
in den drei Wochen am Gardasee immer zusammen. Ich hielt mich aber nie in
der Nähe meiner Familie mit ihm auf, da mir nicht klar war, wie sie auf
ihn reagieren würden.
Aus heutiger Sicht würde man glaube ich sagen, wir
waren ineinander verliebt. Jedenfalls fühlte ich mich sehr stark zu ihm
hingezogen. Wir unternahmen viel, buddelten stundenlang im Sand und
erfreuten uns an allerhand Getier, Muscheln und Pflanzen und unterhielten
uns viel. Er behandelte mich selbstverständlich, war nie grob zu mir und
nahm mich ernst, obwohl ich ein Mädchen war!
Als der Abschied näher kam, schworen wir, uns 'auf
ewig' zu schreiben, obwohl mir noch nicht klar war, wie das geschehen
sollte, ohne dass meine Familie davon etwas erfahren würde.
Am Tag als wir mit dem Auto abfuhren wollte er mich
noch einmal sehen und winkte mir zum Abschied. Daraufhin schossen mir die
Tränen nur so heraus und ich war sehr unglücklich, da mir klar war, dass
wir uns vielleicht noch schreiben, aber wenn, höchstens nächsten Jahr am
Gardasee wieder sehen könnten.
Mein Vater (wat hat die denn?) und mein Bruder (ihh,
die heult ja) verlachten und verhöhnten mich mit weiteren Sprüchen. Meine
Mutter reagierte befremdlich verlegen und stand mir auch nicht zur Seite.
Gerade von meinem Bruder hätte ich erwartet, dass er
solidarisch mit mir ist, meine Gefühle gerade in unserer Situation
verstehen müsste und mich nicht auslacht und in üblicher Manier hänselt.
Das Verhalten meiner Familie schmerzte mich sehr und
ich ließ mir nichts mehr anmerken.
Ich versuchte eine zeitlang heimlich über
Freundinnen den Kontakt zu dem Jungen brieflich aufrechtzuerhalten, was
dann aber irgendwann nicht mehr gelang. Ich sah ihn nie wieder, worüber
ich lange Zeit sehr unglücklich war.
Ich fühlte mich in meiner Familie einerseits of als
Fremdkörper und schäme mich aber auch andererseits heute noch, einer
solchen Familie anzugehören.
Ich befürchte immer wieder, auch selbst keinen sehr
hohen emotionalen IQ zu haben.