Wir waren die falschen Kinder für unsere Eltern. Sie hatten wirklich Pech
mit uns!
Mein Bruder sollte ein robuster und kräftiger Junge
halt ein 'richtiger Stammhalter' werden, der auch einmal über die Strenge
schlägt, mutig und draufgängerisch ist und dem man dann als 'angehendem
Mann' auch so einiges nachsehen kann. Er sollte sportlich sein und vor
allen Dingen ein Fußballfan.
Stattdessen war mein Bruder ein zartes, schmächtiges
Kind. Er aß nach den Vorstellungen meiner Eltern nicht genug. Er war
kränklich, hatte oft Infekte als er klein war und galt als 'unterernährt',
deswegen rannten meine Eltern von Arzt zu Arzt mit ihm, die konnten jedoch
nichts Gravierendes feststellen.
Mein Bruder war ein Träumer, wirkte in sich gekehrt,
ängstlich und schüchtern. Er hatte nichts von einem wilden, aktiven
Rabauken, sondern saß lieber stundenlang in irgendeiner Ecke des Zimmers
und beschäftigte sich selbstvergessen und leise mit irgendetwas. Er las
gerne Bücher, hasste Fußball und war eher unsportlich, d.h. wirkte sogar
sehr linkisch mit dem Ball. Besonders mein Vater war sehr enttäuscht von
ihm und beschimpfte ihn oft als Spinner, Träumer oder Tölpel.
Ich sollte ein richtiges, braves - ruhig auch
schüchternes - Mädchen werden, das immer nur hübsch lächelt und das man
verzieren kann. Jungenspiele bzw. -spielzeug und bestimmte Kleidungsstücke
waren tabu, dafür sollte ich mit allerhand Schleifchen im Haar,
knisternden Röckchen, Püppchen usw die Welt erobern. Weihnachtsgeschenke
waren für solche frauenrollenprägenden Dinge reserviert.
Ich fand das alles höchstlangweilig, zog mir in
unbeobachteten Augenblicken alle Schleifchen aus dem Haar, löste die Zöpfe
auf und knabberte kratzende, verzierte Kleiderkrägen an, denn alles
behinderte nur unnötig beim Bäumeklettern, Fußballspielen und Fahrrad
fahren. Alles Lieblingsbeschäftigungen von mir, die ich aber heimlich
machen musste, da nicht erwünscht.
Als Spielzeug wünschte ich mir Stabilbaukästen,
Legos, Schuko- und Eisenbahnen, da man meiner Meinung nach interessantere
Spiele damit machen konnte als mit Puppen.
Ich hatte eine Lieblingspuppe - an der ich sehr hing
- und die reichte mir.
Meine Mutter wollte mir ständig neue Puppen kaufen,
die interessierten mich aber nicht, ich hatte ja eine. Irgendwann war die
Puppe verschwunden, meine Mutter hatte sie heimlich weggeschmissen, da sie
ihr zu alt war! Ein Wesen mit der ich jeden Abend im Bett eingeschlafen
bin und das mich getröstet hat, wenn ich unglücklich war! Neue Puppen
wollte ich jetzt erst recht nicht mehr.
Röcke waren bei meinen Spielen überhaupt nicht
beliebt. Als ich meine erste Hose bekam, durfte ich diese nur anziehen,
indem ich einen Rock darüber trug. Den zog ich natürlich sofort aus, wenn
ich außer Sichtweite meiner Eltern war. Es war auch weit und breit kein
Mädchen mit Hose und Rock zu sehen.
Nach und nach gab meine Mutter resigniert auf, ein
niedliches Modepüppchen aus mir machen zu wollen.
Mein Bruder und ich waren uns untereinander weder
äußerlich noch charakterlich ähnlich. Ebenso sah keiner von uns einem
unserer Eltern ähnlich. (Lediglich sollte nach Aussagen meiner Eltern
angeblich mein Bruder dem Vater meiner Mutter und ich der Schwester meines
Vaters charakterlich und äußerlich ähnlich gewesen sein -
interessanterweise beides die absolut 'schwarzen Schafe' der Familie 'zu
nichts gebracht, unseriöser Lebenswandel, Alkoholiker') Da wir schon als
Kinder so wenig Ähnlichkeit feststellten und uns auch nicht sonderlich
zugehörig zu unseren Eltern fühlten - vielleicht auch bedingt durch die
ewigen Streitereien - fragten wir uns oft, ob es überhaupt unsere
richtigen Eltern wären und wir nicht evt. im Krankenhaus vertauscht worden
sind. Wir unterhielten uns oft abends im Bett darüber, wer wohl unsere
richtige Eltern sind, und malten uns aus, wo und wie sie lebten und dass
sie uns irgendwann abholen würden. Wir fantasierten uns in Geschichten
hinein, dass unsere richtigen Eltern uns schon lange gesucht, uns endlich
gefunden haben und wir dann auch endlich ohne Streit und glücklich leben
konnten.
Es war die Lösung. Wir mussten entweder adoptiert
oder vertauscht worden sein, da wir ja so gar nicht nach dem Wunsch der
Eltern geraten waren bzw. ihnen nicht ähnlich sahen.