Gefühlsmäßig hatte ich mit dieser Entscheidung noch zu kämpfen, da ich den
Eindruck hatte, dass ich meine Familie insbesondere meine Mutter im Stich
lassen würde. Aber verstandesmäßig war mir klar, dass ich ein Recht auf
Wohlbefinden habe und jeder für sich selbst verantwortlich ist. Auch wenn
ich noch sehr jung war, rechtfertigten die Verhältnisse mein Tun. Endlich
war ich frei und konnte den Ballast hinter mich lassen.
Die Wohnung war zum 'nächsten Ersten' frei, ich
hatte bis dahin noch eine Urlaubsreise nach England geplant, die mir auch
ohne Aufhebens gewährt wurde. Danach wollte ich Umziehen. Aber es kam
etwas anders.
Als ich aus dem Urlaub zurückkam, ging ich als
erstes in erwartungsvoller Vorfreude zu meiner Wohnung. Ich wollte sie mir
noch einmal ansehen und dann mit dem Umzug beginnen. Ich schloss die
Wohnung auf und traute meinen Augen nicht: Die Wohnung war voll gestellt
mit Möbeln!
Die Möbel meiner Mutter - Küchen-, Schlaf- und
Wohnzimmermöbel standen in dem großen, hellen vorderen Zimmer. Dort wollte
sie wohnen. Nach meiner Einschätzung das einzig bewohnbare Zimmer. Es gab
noch ein dunkles Zimmer mit kleinem Fenster zum engen Hinterhof gelegen.
Dort waren die Möbel unseres ehemaligen Kinderzimmers untergebracht.
Meine Mutter tat so, als wäre es das
Selbstverständlichste von der Welt, dass sie jetzt dort eingezogen war.
Ich sollte mit meinem Bruder zusammen in dem
dunklen, kleinen hinteren Raum wohnen. Es hatte wieder etwas kellerhaftes.
So gut ich es auch fand, dass meine Mutter sich
endlich von meinem Vater getrennt hatte (ich hatte ihr oft dazu geraten,
aber sie hatte sich nie getraut und nicht gewusst, wie sie es anstellen
sollte), so unmöglich war es mir unter diesen Voraussetzungen dort zu
wohnen.
Ich kam mir überrumpelt vor, es musste eine andere
Lösung her!
Mein Bruder wohnte noch jahrelang mit meiner Mutter
dort, aber ich sprach sofort mit einem guten Bekannten aus meiner Clique
über meine Situation. Ich erzählte ihm nur, dass ich im Moment keine
Wohnung hätte. Er sprach mit seinem Vater.
Ich war überrascht. Sein Vater gab mir sofort und
uneigennützig ein Zimmer in seiner Wohnung, ohne genau zu wissen, warum
ich keine Wohnung hatte. Er war Beamter und es war einigermaßen gefährlich
für ihn, mich aufzunehmen. Sein Sohn wohnte auch in der Wohnung und damals
bestand noch der so genannte Kuppeleiparagraph, aufgrund dessen man ihn
hätte anklagen können. Aber er vertraute seinem Sohn, der ihm erklärte,
dass ich in Not sei und er ging das Risiko ein. Solch unkomplizierte
Solidarität zu erfahren, tat mir sehr gut.
Ich wohnte noch einige Zeit dort, hatte aber bereits
andere Pläne. Im 'Republikanischen Club' wurden seit längerem sog. 'neue
Lebensformen' diskutiert. Wir stellten uns vor, in Zukunft nicht in einer
Kleinfamilie, sondern in 'Großfamilien', Kommunen oder Wohngemeinschaften
zu wohnen. Das war genau das Richtige für mich, denn von der Kleinfamilie
hatte ich erst einmal genug. Es schien mir auch interessanter, mit
mehreren zusammen zu wohnen als alleine, da man mehr Anregungen hatte.
Ich schloss mich einer Wohngemeinschaft an, bei der
von vorneherein selbstverständlich war, dass die 'Schwachen'
Schlechtverdienenden wie z.B. Lehrlinge von den anderen schon gut
Verdienenden unterstützt würden. Jeder zahlte soviel in die Kasse, wie er
konnte. (Ich hatte sehr wenig, da ich von meinen Eltern kein Geld bekam).
Miete, Essen u.a. wurde von der sog. Gemeinschaftskasse bezahlt. Auch dies
solidarische Verhalten ermöglichte es mir, meine Lehrstelle zu Ende zu
bringen.
Es gab in der Wohngemeinschaft natürlich auch
Probleme, aber insgesamt war es eine heilende Zeit für mich, da ich viel
Kontakt mit vielen Gesprächen, Diskussionen und
Auseinandersetzungsmöglichkeiten hatte.