Letztlich habe ich meinen Eltern nicht nur zu verdanken, dass ich die
Realschule besuchen durfte und ein Lehrstelle anfangen konnte, sondern sie
haben mich auch mit den nötigen sog. 'Mittelstandsnormen' versehen, dies
alles auch zu schaffen.
Wenn es vielleicht auch ursprünglich eher für meinen
Bruder gedacht war, so haben sie mich eindeutig geprägt und klingen mir
nachträglich noch in den Ohren: z.B. 'Was man einmal angefangen hat,
bringt man auch zu Ende!, 'Weglaufen gilt nicht' und 'Lehrjahre sind keine
Herrenjahre', u. ä.. Es schickte sich einfach nicht zu kneifen und
irgendetwas abzubrechen, man musste durchhalten. Das mag man auch kritisch
sehen können, aber mir hat es oft geholfen, so auch beim Abschluss meiner
Lehrstelle.
Wie erwartet, fand ich die Lehrstelle furchtbar
langweilig. Mich den ganzen Tag mit dem Erstellen und der Ablage von
geschäftlicher Korrespondenz zu beschäftigen, in der es um den Verkauf von
Kassettenrecordern, Tonbändern etc. ging, schien mir sehr öde. Aber ich
hatte ja ein Ziel, und deswegen musste ich da durch!
Erleichtert hat mir die Zeit u. a. wieder die
Beschäftigung mit Büchern. Während es in der Kindheit hauptsächlich Romane
waren, die mich interessierten, fing ich ca. ab dem 15. Lebensjahr an,
mich auch mit Sachbüchern zu beschäftigen.
Philosophie, Psychologie, Soziologie, Anthropologie,
Verhaltensforschung und Pädagogik interessierten mich sehr, und ich ging
fast jeden Abend nach der Arbeit zur Volkshochschule und belegte Kurse zu
den entsprechenden Themen. Meistens war gerade noch Zeit für 2 Kurse, den
zweiten schaffte ich kaum noch und abends um ca. 10 Uhr fuhr ich mit dem
letzten Bus nach Hause, fiel todmüde ins Bett, um dann um ca. 6.00 Uhr
wieder aufzustehen.
Z.B. erinnere ich mich an Autoren wie Brecht,
Dürrenmatt, Frisch, Hesse, Weiß auf der einen Seite und z.B. Jaspers,
Plack, Freud, Adler, Reich, Fromm, Fried, Lorenz, Gordon, Aristoteles,
Habermas, Marcuse auf der anderen Seite. Sie waren meine ständigen
Begleiter. Ich verschlang diese Bücher, denn ich brauchte Hilfe.
Wenn ich auch oft nicht viel oder vielleicht nur die
Hälfte verstand, so halfen diese und andere Bücher doch dabei, mir meine
Probleme und die Welt zu erschließen.
Mit meinen Eltern hatte ich in dieser Zeit immer
weniger Kontakt. Ich hatte mich mit Jugendlichen zusammengetan, die auch
Englandfans waren. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft und fuhren
noch jahrelang zu den 'Parents' nach England, bis sie die Pension
aufgaben. In dieser Clique fühlte ich mich wohl, ein Gefühl, dass ich seit
langem nicht mehr kannte.
Ich wohnte kaum noch zu Hause, kam nur noch zum
Schlafen.
Eines Tages informierte ich meine Mutter, dass ich
ausziehen wollte. (Mein Vater war kaum noch anwesend). Ich hatte mir schon
eine Wohnung gesucht und brauchte für den Mietvertrag die Unterschrift
meiner Mutter, da ich erst knapp 16 war. Meine Mutter war zuerst nicht
einverstanden.
Ich wusste eigentlich auch gar nicht, wie ich die
Wohnung bezahlen sollte. Ich bekam 75,-- DM Lehrgeld im ersten Lehrjahr
und die Wohnung kostete ohne Heizung etc. 149,-- DM. Aber irgendwie würde
es schon gehen!
Ich wollte auf jeden Fall ausziehen. Bei den wenigen
Zusammenkünften, die wir hatten, kam es vor, dass mein Vater mich schlug,
wenn er mit irgendetwas nicht einverstanden war, was ich machte. Ohne sich
in anderer Form mit mir auseinanderzusetzen - ohne Vorwarnung und ohne
etwas zu sagen schlug er zu. Dieses Erziehungsmittel konnte ich nicht
akzeptieren, auch weil ich längst die Achtung vor meinen Eltern verloren
hatte.
Mein Bruder verhielt sich in solchen Situationen
höchst merkwürdig. Er wirkte in dieser und in der Folgezeit auch immer
sehr abwesend. Er war mittlerweile soweit, dass er, wenn wieder heftiger
Streit in der Familie war, kopfüber mit am Körper angelehnten Armen und
irrem Blick zu Boden sprang. Ein Glück, dass ihm nichts passiert ist. Ich
werde dieses Bild nie vergessen.
Ich hielt es nicht mehr aus, ich musste raus!
Ich teilte meiner Mutter mit, dass ich die
Unterschrift zum Mietvertrag bräuchte, ich aber alles alleine bezahlen
würde.
Wenn ich sie nicht bekäme, würde ich das Jugendamt
informieren, über die Zustände, die in meinem Elternhause von klein auf
herrschten.
Ich weiß nicht, ob ich es getan hätte, aber ich
fühlte mich schon allein wegen der Drohung wie ein Verräter und
Charakterschwein!
Am nächsten Morgen lag der unterschriebene
Mietvertrag auf dem Küchentisch - ohne Worte!