Ich hatte leider nie eine besonders positive emotionale Beziehung zu
meiner Mutter, fühlte ich mich doch von Ihr nicht richtig angenommen und
geliebt.
Aber für einige Dinge bin ich Ihr heute noch sehr
dankbar. Sie war eine wunderbare Köchin, alles schmeckte großartig und sie
gab sich viel Mühe, vielfältig und mit frischen Zutaten zu kochen.
Wenn wir als Kinder etwas Fremdes nicht essen
wollten, war immer die Devise: Erst mal probieren, dann kann man immer
noch ablehnen! Meistens schmeckte es dann. Oder fremdes Essen wurde mit
bekanntem vermischt, so konnte man sich an den fremden Geschmack gewöhnen.
Wir wurden nie 'gezwungen', etwas zu essen. Nur, was man sich auf den
Teller geladen hatte, sollte man auch aufessen. Damit konnte ich gut
leben. Da mein Magen aufgrund der Familienatmosphäre oft wie zugeschnürt
war, kam dies meiner vorsichtigen Essweise sehr entgegen. Es gab oft genug
Tage, an denen ich nichts oder nur wenig herunterbekam. Ich weiß nicht,
was passiert wäre, hätte man mich zu irgendeinem Essen gezwungen.
So ist aus mir ein genussvoller Esser geworden, der
alles Fremde gern probiert und ausprobiert, bzw. beim Kochen auf
gehaltvolle, schmackhafte Zutaten achtet.
Auch meinem Vater stand ich distanziert gegenüber.
Er war ja auch wenig zu Hause. Aber er sorgte gut für uns und war - trotz
vieler Arbeit - der Motor dafür, dass wir sonntags oft Ausflüge machten
und ins Ausland verreisten, wenn es möglich war. So lernten wir schon als
Kinder unterschiedliche Lebensmöglichkeiten kennen und dem Fremden
gegenüber aufgeschlossen zu sein.
Auch bin ich dankbar dafür, dass meine Eltern mich
letztendlich in Konfliktfällen - wenn sie dann schon nichts für mich tun
konnten - immer haben 'Ziehen' lassen, d.h. ich konnte meinen 'eigenen
Weg' gehen, wenn Sie sahen, wie ernst es mir war.
Aber - aus meiner Sicht - war das größte Verdienst
meines Elternhauses, dass uns Bücher näher gebracht wurden.
Besonders meine Mutter liebte Bücher sehr. Wenn sie
auch nicht so oft zum Lesen kam, konnte man ihr mit einem Büchergeschenk
immer eine große Freude machen. Sie wurden alle im großen
Wohnzimmerschrank aufbewahrt, den wir sehr bewunderten.
Beim Überreichen eines Buches, z.B. zum Geburtstag,
leuchteten die Augen meiner Mutter. Wie wertvoll mussten Bücher sein!
Wir wurden immer dazu angehalten und darin
unterstützt zu lesen. Wir waren Mitglied in der sog. 'Büchergilde
Gutenberg', die jedes Vierteljahr einen wunderschönen Katalog
herausbrachte. Mein Bruder und ich freuten uns immer sehr darauf, denn wir
durften uns dann für Festtage immer Bücher als Geschenke aussuchen.
Ich konnte es kaum erwarten, bis wir dann z.B. zum
Geburtstag, zu Ostern oder Weihnachten wieder einen Satz frischer Bücher
in der Hand hatten. Wir lasen oft stundenlang. Wir verkrochen uns - gerade
auch in Krisenzeiten - in unser Zimmer und verschlangen die Bücher
förmlich. Sie gaben uns Rat, Hilfe, Orientierung, emotionale Stütze,
Auseinandersetzungs- und Identifikationshilfen, wie ich heute weiß. Da
unsere Eltern keine Ansprechpartner für uns sein konnten und waren,
fühlten wir uns weniger von unseren Eltern als von Büchern erzogen.
Ein Glück, dass Bücher da waren! Ich glaube die
Bücher haben uns gerettet!