Als ich ca. 11 Jahre war zogen wir noch einmal in einen anderen Stadtteil
etwas außerhalb von .... . Mein Vater brauchte dadurch nicht mehr mit dem
Auto zur Arbeit zu fahren, sondern die Firma lag direkt neben unserer
Wohnung. Wir Kinder konnten es uns aussuchen, ob wir die Schule wechseln,
oder weiter in die alte gehen wollten. Natürlich wollten wir lieber in der
alten bleiben und fuhren jeden Tag mit dem Fahrrad in die 10 km entfernte
Schule. Mein Mutter erhoffte sich von dem Umzug, dass mein Vater mehr zu
Hause sein würde.
Aber es kam nicht so. Mein Vater war weiterhin viel
weg, dafür waren meine Mutter und wir viel isolierter.
Meine Mutter war weiterhin sehr unglücklich, weinte
weiterhin sehr viel und aus heutiger Sicht glaube ich, sie war depressiv.
Es wurde immer schlimmer. Im Schlafzimmer meiner
Eltern, (welches ich nicht betreten durfte, aber trotzdem manchmal einen
Blick erhaschen konnte) türmte sich auf dem Fußboden und teilweise auch
auf dem Bett meines Vaters schmutzige Wäsche.
In der Küche türmte sich ebenso schmutziges
Geschirr. Die Ablageflächen und der halbe Tisch waren voll damit, so dass
wir kaum Platz hatten, daran zu essen. Ich hätte meiner Mutter gerne beim
Abwasch geholfen, oder hätte es auch gerne alleine gemacht.
Aber ich durfte nicht, da ich angeblich alles
kaputtmachte. Es gab also wieder kein Entrinnen aus dieser Situation. Sie
musste ausgehalten werden. In meiner Erinnerung jahrelang.
Wir durften im Alltag auch weiterhin nicht ins
Wohnzimmer, weil die Möbel geschont werden sollten. (Nur am Wochenende mit
meinen Eltern zusammen, gewaschen und umgezogen, abends falls mein Vater da war.
Wir fühlten und terrorisiert) Hier war immer alles
ordentlich, es könnten ja mal Leute kommen!
Wir konnten und durften am großen Küchentisch in der
Küche keine Hausaufgaben mehr machen wie früher, sondern mussten in
unserem Zimmer arbeiten. In dem Zimmer stand zum Arbeiten aber nur ein
kleiner niedriger, wackliger Campingtisch. Zum Arbeiten für meinen Bruder
und mich sehr ungeeignet und es gab immer Streit, den mein
Bruder natürlich gewann, weil er größer war. Ich glaube im Nachhinein das
ist der Grund, warum ich aufhörte, Hausaufgaben zu machen und ich jeden
morgen mit Ängsten in die Schule ging, nachts nicht richtig schlief,
musste ich die Hausaufgaben doch noch irgendwie in den Pausen erledigen.
Ich weiß eigentlich nicht, wie ich die Schule dann doch geschafft habe,
die Lehrer müssen ziemlich milde gewesen sein und glücklicherweise
stimmten ansonsten die Schulnoten.
Das Zimmer war nicht sehr groß. Es passten gerade 2
Betten rein, mit ca. 1m Platz dazwischen, dann stand in der einen Ecke der
Campingtisch und in der anderen ein großer Kleiderschrank für uns beide.
(Ich muss vielleicht noch erwähnen, dass wir nicht arm waren. Mein Vater
verdiente mittlerweile als technischer Betriebsleiter einer 500-Seelen-Firma für die
damalige Zeit sehr gut!) An diesen Kleiderschrank durften wir - wenn - nur
unter Aufsicht dran, wir durften uns nichts alleine herausnehmen oder
einordnen.
Das Allerschlimmste an dieser Zeit war, dass wir
meistens keine sauberen Sachen für die Schule hatten. Wir kamen ja langsam
in die Pubertät und der Körper verändert sich. Wir mussten oft
wochenlang(!) den gleichen Pullover anziehen. Auch mit häufigem Waschen
war es nicht zu vermeiden: irgendwann stank der Pullover oder das Hemd und
wir mussten stinkend (oder wir glaubten nur zu stinken?) in die Schule.
Wie haben die anderen oder die Lehrer es nur mit uns ausgehalten?
Jedenfalls viel nie ein böses Wort.
Ich versuchte, mich in der Schule möglichst wenig zu
bewegen und hielt mich möglichst fern von anderen Kindern und kam auch den
Lehrern wenn möglich nicht zu nahe, aber unseren eigenen Ausdünstungen
konnten wir nicht entweichen.
Es war eine Qual. Täglich bat ich meine Mutter um
frische Sachen, diese vertröstete mich jedoch meistens auf den nächsten
Tag und groß war die Enttäuschung, wenn am nächsten Morgen nichts Sauberes
dalag. Ich bat meine Mutter auch, mir selbst etwas für mich waschen zu
dürfen, aber auch das wurde mir mit dem Hinweis, ich würde dann alles
versauen und dreckig machen(!) verwehrt. Ob in dem Schrank vielleicht
etwas Sauberes zum Anziehen gelegen hat, weiß ich nicht, denn ich traute
mich ja nicht, dort hineinzuschauen.
Ich frage mich heute, warum ich mich an die Verbote
gehalten habe, da ich sehr gelitten habe. Aber ich hatte auch Angst, meine
Mutter würde noch mehr Schluchzen und tat deswegen, was sie wollte.