1)
Der Begriff „Essstörungen“ verleitet dazu, das „Problem“
im Essen zu sehen und dort zu „bekämpfen“. Ähnlich wie Schmerzen
auch nur ein Symptom sind, das als „Warnsignal“ auf die eigentliche
Krankheit verweist, sind „Essstörungen“ häufig auch nur ein
Anzeichen für „tiefer liegende Probleme“. Wer sich nur auf das Essen
konzentriert, setzt deshalb leicht an der falschen Schraube an.
2)
Essstörungen haben selten eine einzige Ursache:
Vererbung, erlerntes Verhalten („Frustfressen“ aber auch
„Essgenuss“) und Umwelteinflüsse (Konsumterror, gesellschaftlicher
Schlankheitswahn) können gleichermaßen eine Rolle spielen. Es macht
deshalb wenig Sinn, eine Hauptursache zu suchen und sich auf diese zu
konzentrieren.
3)
Essstörungen lassen sich als Fehlregulationen der
Impulskontrolle beschreiben: entweder wird dem Essdrang zügel- und
hilflos nachgegeben (Bulimie, Adipositas) oder durch ein Übermaß an
Kontrolle (Magersucht) werden Gefühle von Euphorie und Macht erzeugt
(das „Triebleben“ zu beherrschen, der Welt nicht hilflos
ausgeliefert zu sein). Mitunter kennt man diese Erfahrung als
„Nichtessgestörter“ auch vom Fasten.
4)
Menschen mit Essstörungen können sich meistens nur schlecht
körperlich selbst wahrnehmen (Körperschema-Störung). Deshalb spüren
sie kaum, was ihnen (nur an Nahrung?)
fehlt und wann sie eigentlich satt sind. Nicht selten finden man in der
Vorgeschichte Selbstverletzungen. Damit verbunden ist häufig die Unfähigkeit,
Gefühle auszudrücken. Unausgedrückte (oder gar unterdrückte) Gefühle
können die (körperliche) Erregung (Unsicherheit) steigern (so wie der
Versuch, nicht zu lachen, das Lachen oft verstärkt). Die erhöhte
Erregung ist zwar körperlich deutlich messbar (erhöhter Puls, veränderter
Hautwiderstand, vermehrte Muskelanspannung), dennoch wird sie von vielen
Betroffenen kaum wahrgenommen.
5)
Tendenziell sind Essgestörte eher introvertierter. Sie
neigen dazu, sich emotional von anderen abzuschotten (vielleicht weil äußere
Impulse sie schneller erregen). Sie geben ihrem „Spürsinn“ wenig
Gelegenheit. Vielmehr sind sie schnell mit rationalen Erklärungen für
ihre Symptome zur Hand. Überdurchschnittlich oft haben Essgestörte
ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Mit Frustrationen können
sie nur schlecht umgehen.
6)
Essen hat für Essgestörte eine übermäßige Bedeutung.
Essen dient nicht nur dem Überleben; vielmehr wird es zum bedeutungsträchtigen
Symbol (für eigenes Versagen, für eigene Mängel, als
Beruhigungsmittel, als Ausdruck von Macht, als Provokateur von
Konflikten). Wer glaubt, dass allein schon ein „Waschbrettbauch“ und
ein „knackiger Hintern“ Lebensprobleme erledigt, irrt meistens.
7)
Wie viele Symptome, die irgendwann einmal als „Störungen“
erlebt werden, können auch Essmuster mitunter einmal sehr sinnvoll
gewesen sein. Möglicherweise waren sie einmal die „bestmögliche
Verhaltensweise“. Dennoch kann die Zeit sie überholen (So mag der
„Schrei nach der Flasche“ zu einem Baby passen und wohlwollend von
der Umwelt beantwortet werden; bei Erwachsenen wird das gleiche Schreien
jedoch eher Kopfschütteln oder Ärger auslösen. Die Veränderung alter
Muster wird in der Regel erst dann möglich, wenn dem oder der
Betroffenen zwischenzeitlich günstigere Alternativen zur Verfügung
stehen. Psychotherapie kann diese aufzeigen.
8)
Einmal gebahnte Verhaltensmuster sind kaum noch „zu
verlernen“. „Rückfälle“ sind deswegen immer möglich.
Niemand ist jedoch gezwungen, alte Muster ständig aufzuwärmen.
9)
Obwohl man pauschalierend von „Essstörungen“ spricht und
es sicherlich viele Gemeinsamkeiten gibt, hat jeder Betroffene sein ganz
individuelles Muster und sind fast immer individuell zugeschnittene
Hilfen geboten. Erst ein individueller Ansatz erhöht beim
Betroffenen das Erlebnis, in seiner Einmaligkeit wertgeschätzt zu
werden. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von dieser Welt
und deren Funktionieren. Neue Informationen müssen an das
vorhandene Weltbild anknüpfen, um angenommen zu werden.
„Anschluss“ finden sie meist dann, wenn die entsprechende
„Erkenntnis“ mit ausreichend
bewegenden emotionalen Erfahrungen verbunden ist.
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